Ein Kunstwerk als kulturelles Bindeglied und als Verkörperung des europäischen Gedankens – das war die Idee Pinuccio Sciolas, als er am 31. März 1979 seine Skulptur aus vulkanischem Trachyt der Stadt Kirchheim zum Geschenk machte. Anfangs zwischen Kornhaus und Max-Eyth-Haus platziert, hat der über zwei Tonnen schwere Stein bald seinen Standort neben der Martinskirche gefunden.
Die gewichtige Arbeit hat einen langen Weg hinter sich: für den Transport von Sardinien zeichnete der damalige Stadtrat Kröger verantwortlich. Mit Graziano Manca hatte Kröger einen engagierten Fürsprecher sardischer Kultur und engen Freund des Bildhauers zur Seite. Auch dem Kirchheimer Club Bastion war Pinuccio Sciola verbunden. Zu dessen Eröffnung im September 1968 schuf Sciola eine Holzskulptur, die seitdem im Gewölbe der Bastion präsent ist. Anlässlich des 15-jährigen Bestehens fertigte er eine limitierte Serie handkolorierter Drucke, deren Erlös dem Verein zugutekam.
Die Karriere des international gefeierten Künstlers begann unscheinbar: In seinem sardischen Geburtsort San Sperate arbeitete Sciola bis zu seinem 18. Lebensjahr als einfacher Landarbeiter. Schlagartig änderte sich sein Leben, als 1959 die Begabung des jungen Künstlers offenkundig wurde. Umgehend erhielt er einen Kunstpreis samt Stipendium an der Akademie in Cagliari. Weitere Studien führten ihn nach Florenz und Salzburg. Auf zahlreichen Reisen pflegte Sciola den Austausch mit Künstlerpersönlichkeiten wie Oskar Kokoschka, Henry Moore oder Luciano Minguzzi. Seiner Heimat Sardinien blieb er stets verbunden. Dort legte er auch den Grundstein für eine internationale Bildhauerkolonie.
2016 ist der Künstler im Alter von 74 Jahren in Cagliari verstorben. In ihren Nachrufen würdigte die internationale Presse Sciola als Bildhauer von Weltruhm. Ein Renommee, das er nicht zuletzt seinen klanglich zu erlebenden „pietre sonore“ verdankt. Mit dieser Werkgruppe klingender Steine gelingt Sciola die ästhetische Aufhebung kompakter Schwere in Licht und Klang.
Mehr als ein stummer Mahner
Kompakt liegt auch der Kirchheimer Sciola-Stein da. Doch dessen ebenso einfache wie kunstvolle Formensprache bringt nicht nur die Betrachter in Bewegung. Sie führt auch die Dichte des Materials in einen Zustand kontemplativer Ruhe. Kirchheims Stadtverwaltung plant, die Stationen des Kunstwegs mit ausführlichen Informationen zu versehen. Dann kann sich auch das politische Anliegen von Sciolas Skulptur wieder entfalten. Seinerzeit bildeten die feierliche Wiedereröffnung des sanierten Kornhauses und die erste Wahl zum Europaparlament den Anlass der Schenkung. Heute, 45 Jahre später, harrt nicht nur das Kornhaus seiner Wiedereröffnung. Nationalistische Kräfte sind auf dem Vormarsch und stellen den europäischen Gedanken infrage. Gerade jetzt sollte Sciolas mächtiger Trachyt mehr als ein stummer Mahner sein.