Kirchheim
Eine Mutter berichtet: Wie war das vor 60 Jahren mit einem Kind mit Down-Syndrom?

Lebenshilfe „Es gab Zeiten, da kam ich mir neben anderen Müttern ganz klein vor.“ Von Julia Nemetschek-Renz

Ihr zweiter Sohn kam 1961 zur Welt: Gisela Wahl ist zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt, lebt mitten in Kirchheim, und vom Down-Syndrom hat sie noch nie gehört. „Der sieht anders aus“, sagen Ärzte und Nachbarinnen beim Blick auf das Baby, und Gisela Wahl hat große Angst: „Ich dachte, jetzt muss ich mein Kind hergeben. Das war für mich das Schlimmste.“ Heute ist sie 92 Jahre alt, hat warme braune Augen und leuchtend weiße Haare. Doch bei der Erinnerung an diese Zeit sinken ihre Schultern herab.

Die sogenannte Baracke in der Austraße in Kirchheim – die erste Schule für Kinder mit geistiger Behinderung in Kirchheim, 1967 bis 1972. Foto: Lebenshilfe Kirchheim

Noch in den 60er-Jahren war es in Deutschland üblich, Kinder mit einer geistigen Behinderung in ein Heim abzugeben. Und die Eltern, die ihre Kinder behielten, versteckten sie zu Hause. Die Nazi-Gewalt und das geplante Töten von Menschen mit Behinderung waren erst 16 Jahre her. Das prägte die Gesellschaft. In Deutschland gab es keinerlei Beteiligungsstrukturen für Menschen mit Behinderungen. Es gab keine Schulpflicht, keine Kindergärten: Menschen mit geistigen Behinderungen galten als bildungsunfähig. Die Heime am Stadtrand hatten große Schlafsäle und Gemeinschaftsbäder. Bildung, Selbstbestimmung, Individualität waren hier nicht vorgesehen. Unterstützende Angebote für die Eltern fehlten völlig. Und Gisela Wahl traut sich vier Jahre lang kaum mit ihrem Kind vor die Tür; sie hat Angst, will die Kommentare der anderen Menschen nicht hören und schämt sich.

Doch dann steht da diese Annonce im Teckboten. „Das muss im Jahr 1964 gewesen sein“, erzählt Gisela Wahl. In Kirchheim soll eine Lebenshilfe gegründet werden. Interessierte sind zu einer Sprechstunde eingeladen. Gisela Wahls Mutter geht hin. „Meine Mutter war freier als ich“, erzählt sie, „ich habe mich nicht getraut.“ 1965 gründet sich die Lebenshilfe Kirchheim und macht sich für eine Schule für Kinder mit einer geistigen Behinderung stark.

Selbstbestimmt Wohnen – heute selbstverständlich: Bianca Alagna, Frank Oelschläger, Andreas Sewtz und Uwe Stifter im Wohnheim in der Saarstraße. Foto: Lebenshilfe Kirchheim

Die Stadt Kirchheim stellt der Lebenshilfe zwei Häuser aus Holz in der Austraße zur Verfügung und übernimmt die Trägerschaft. 1967 startet der Unterricht mit sieben Kindern, Gisela Wahls Sohn ist eines von ihnen. „Bei uns hießen die Holzhäuser Baracken, sie waren urgemütlich. Und dort habe ich endlich andere Mütter kennengelernt.“

Gisela Wahl ist 1970 die erste Frau im Vorstand der Lebenshilfe und bleibt 32 Jahre als studierte Betriebswirtin verantwortlich für die Finanzen. 1975 gründet sie den inklusiven Carl-Weber-Kindergarten mit, 1994 wird das Wohnheim in der Saarstraße gebaut, als ers­tes Wohnheim im Kreis mit Einzelzimmern und einem WG-Konzept, in dem selbstbestimmtes Leben möglich ist – es wird Zuhause für 24 Menschen – auch für Gisela Wahls Sohn.

Der erste Bus bringt die Kinder 1975 in den neugegründeten Kindergarten in der Austraße.

„Es hat wirklich Zeiten gegeben, da kam ich mir neben anderen Müttern ganz klein vor und habe mich geschämt,“ erzählt Gisela Wahl heute. Sie richtet sich auf in dem Ohrensessel mit der roten Decke, die eine Freundin gehäkelt hat. Was würde sie den Müttern heute raten? Sie überlegt lange. Viele Kinder mit Down-Syndrom gäbe es ja nicht mehr, sagt sie vorsichtig. Heute könne man sich ja entscheiden. Aber raten könne sie anderen Müttern nichts. Über ihren Sohn habe sie so viele nette Menschen kennengelernt, die sie ohne ihn niemals im Leben getroffen hätte. Er sei ein ganz großes Glück.

Doch gibt es etwas, das sie sich wünschen würde für die Zukunft? Oder für die gesamte Gesellschaft? Sie nickt. „Ja, ich wünsche mir, dass die Menschen mit Behinderung immer jemanden haben werden, der sich für sie einsetzt.“

Auch heute gibt es noch viel zu tun bei der Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen

„Scham und Schuld wurden immer den Müttern zugeschoben“, sagt Bärbel Kehl-Maurer, Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe Kirchheim, die selbst einen Sohn mit Down-Syndrom hat. Kam ein Kind mit Behinderung zur Welt, ging der Blick zur Mutter. Deshalb sei es auch erstes und ureigenstes Ziel der Lebenshilfe gewesen, die Mütter untereinander zu vernetzen und zu stärken.
In den 80er-Jahren gründet Bärbel Kehl-Maurer den Müttertreff. „Wir sind einfach ganz selbstverständlich ins Café gegangen, natürlich mit unseren Kindern“, erzählt sie und lacht. „Die Leute haben vielleicht geschaut, aber uns war das egal.“ Sie erinnert sich an Mütter, die noch in den 80er-Jahren ihre Kinder mit Behinderung bei Einladungen immer zu Hause gelassen haben. „Ich habe meinen Sohn von Anfang an überallhin mitgenommen. Denn ich habe mir gesagt: ‚Wer mich einlädt, der lädt auch mein Kind ein‘.“
Doch es gibt noch viel zu tun: Der weitere Ausbau der Inklusion in den Schulen sei gesellschaftlich enorm wichtig. „Wir sehen das sehr deutlich in unserem inklusiven Carl-Weber-Kindergarten: Es ist dort ein selbstverständliches Miteinander. Das prägt auch die Kinder ohne Behinderung für ihr ganzen Leben“, betont Bärbel Kehl-Maurer. Die Teilhabe der Menschen mit einer geistigen Behinderung am ersten Arbeitsmarkt fehle jedoch derzeit noch völlig. Hier müssten endlich Strukturen geschaffen werden, die es auch allen Menschen mit Behinderung ermöglichen, ihre Fähigkeiten wirklich einzubringen.
Um die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung zu stärken, Familien zu vernetzten und Teilhabe voranzutreiben, muss sich die Lebenshilfe modern aufstellen. Geschäftsführerin Cornelia Klee: „Wir führen hier ein mittelständisches Unternehmen mit 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und müssen die wirtschaftlichen Anforderungen mit guten Angeboten für junge Familien verzahnen.“ jnr