Ein fünfzigster Geburtstag ist ein Grund zum Feiern. Gleichwohl erinnerte Jesingens Ortsvorsteherin Gabriele Armbruster daran, dass die Eingemeindung zunächst kein Anlass zur Freude gewesen sei: „Bei diesen Reformen hat es sich um Vernunftehen, nicht um Liebesheiraten gehandelt“. Längst aber stößt die Verbindung auf Gegenliebe. Kirchheims Oberbürgermeister Dr. Pascal Bader betonte, dass Jesingen aus der Gesamtstadt nicht mehr wegzudenken sei: „Der Ortsteil ist lebendig, er bewahrt sich seine eigene Tradition.“
Kirchheims Stadtarchivar Dr. Frank Bauer referierte die Geschichte der Eingemeindung. Für viele Jesinger sei es einer „Kapitulation“ gleichgekommen, als am 20. Juni 1974 Bürgermeister Erwin Junginger und Kirchheims Oberbürgermeister Franz Kröning den Vertrag zur Eingliederung unterzeichneten. Die Mehrheit der Jesinger hatte dagegen votiert. Nun herrschte Sorge: Wie wird es weitergehen mit der Gemeindehalle oder dem Friedhofswesen? Das Ende der Jesinger Eigenverwaltung betrachtete Bauer im Rahmen der großen Gebietsreform, der auch der heutige Landkreis Esslingen seine Gestalt verdankt: „Hintergrund dieser Gebietsveränderung war die Etablierung größerer und leistungsfähigerer Verwaltungseinheiten.“ Bereits 1935 hatte Kirchheim Ötlingen und Lindorf geschluckt. „Seit dieser Zeit hing die Furcht vor einer Eingemeindung wie ein Damoklesschwert über dem stolzen Jesinger Rathaus“. Jesingens Hoffnung ruhte auf dem „Sauerierdreieck“: ein Schulterschluss mit Ohmden und Holzmaden könnte die kritische Einwohnerzahl aufbringen, um der „Kirchheimer Amöbe“ zu entgehen. Doch die Landespolitik machte Druck. Mit dem Vertragsschluss im Juni 1974 nutzte Jesingen die letzte Gelegenheit für einen freiwilligen Zusammenschluss, der mit einer „Fusionsprämie“ belohnt wurde.

An den Festvortrag schloss sich eine Podiumsdiskussion an. Als ehemaliger Rektor der Lindachschule und stellvertretender Ortvorsteher kam Hans Gregor auf das Jesinger Schulwesen zu sprechen. Die Eingemeindung brachte einen Innovationsschub: die Anschaffung moderner Tageslichtprojektoren habe für den Unterricht das „Ende der Kreidezeit“ markiert. Anders als in Gemeinden, die erfolgreich für eine weiterführende Schule gekämpft haben, hätten in Jesingen die Schüler gefehlt, so dass man sich mit der Grundschule habe bescheiden müssen. Regine Schmid, geborene Sting, kann auf eine bald 200-jährige Familientradition im Müllerhandwerk zurückblicken. Für die lokale Wirtschaft sei die Eingemeindung zweitrangig gewesen, sagte sie. Wichtiger seien kompetente Akteure vor Ort, die konsensorientiert handelten.
Als Ortschaftsrätin und stellvertretende Ortvorsteherin blickte Marianne Gmelin auf strukturelle Veränderungen zurück. Die Auflösung des Jesinger Bauhofs habe man mit der Sorge beäugt, ob der Kirchheimer Bauhof verschneite Schulwege wohl rechtzeitig räume: „Aber die Kirchheimer waren damit früher fertig als der Jesinger Bauhof zuvor!“ Doch die Optimierung war keine Einbahnstraße. Seit einigen Jahren floriere die Jesinger Rentenberatung: „Viele Kirchheimer kommen deshalb nach Jesingen“, betonte Gmelin. Als „Privileg“ wertete sie die hauptamtliche Ortsvorsteherstelle, die Jesingen mit der Eingliederung erhalten hat. Sören Schäfer, Ortschaftrat und Abteilungskommandant der Feuerwehr Jesingen, skizzierte eine Win-win-Situation: „Der große Vorteil Jesingens ist die räumliche Nähe zu Kirchheim“. Die vom Engagement der Vereine und Kirchen getragene Jesinger Jugendarbeit könne zugleich auf die Kirchheimer Infrastruktur zurückgreifen.
Für einen würdigen Rahmen sorgten Musikverein Jesingen, Gitarrist Daniel Bihon und Mundartdichter Johannes Lahn mit zeitkritischen lyrischen „Gedankenfetzen“.
Mehr Infos zur Geschichte Jesingens
Uosinga Erste urkundliche Erwähnung findet Jesingen im Jahr 769 im Lorscher Codex als „Uosinga“. Über die Zeit im Besitz des Klosters St. Peter bis zur Eingliederung der Siedlung in die Grafschaft Württemberg im Lauf der 1450er-Jahre ist wenig bekannt. Die Reformation bringt um 1525 den Gottesdienst in deutscher Sprache nach Jesingen. Zugleich wird das Herzogtum Württemberg zum größten Grundherren vor Ort. Im Dreißigjährigen Krieg brechen Einwohnerzahl und Landwirtschaft drastisch ein. Reformen im Gefolge der Französischen Revolution bringen Zuwachs an Freiheit: Viele Jesinger wandern im 19. Jahrhundert in die neue Welt aus. Die Erschütterungen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts bekommen nahezu alle Jesinger Familien zu spüren. Vertriebene Deutschsprachige aus Ostmitteleuropa finden nach 1945 eine neue Heimat. Mit rund 3.600 Einwohnern ist Jesingen heute der zweitgrößte Teilort von Kirchheim. fs