Kirchheim
Ergotherapie-Praxen werden überrollt

Gesundheit In der ambulanten Ergotherapie sorgen die steigende Zahl an Patienten und der Mangel an Nachwuchs für Engpässe. Der Ruf nach tiefgreifenden politischen Veränderungen wird laut. Von Bianca Lütz-Holoch

Die junge Mutter, die nach der Geburt ihres Babys einen neuen MS-Schub erleidet, der Schlaganfall-Patient und das Kind, das sich in der Schule auffällig verhält. Sie alle hoffen dringend auf eine Ergotherapie-Behandlung – und müssen oft erst mit einem Platz auf der Warteliste vorlieb nehmen. „Wir werden vollkommen überrollt“, sagt Marlies Bellon, Mitinhaberin einer Kirchheimer Ergotherapiepraxis und seit 40 Jahren Ergotherapeutin. Ein Einzelfall ist ihrePraxis damit nicht. In der ganzen Region und sogar landesweit ist die Nachfrage nach Ergotherapie höher als das Angebot. Die Gründe dafür sind vielfältig.

 

„Es kommen immer mehr Long-Covid-Patienten zu uns.
Marlies Bellon
Mitinhaberin einer Kirchheimer Praxis

 

„Die Verordnungsmenge nimmt stetig zu“, sagt Julia Mischner, Vorsitzende der Landesgruppe Baden-Württemberg im Deutschen Verband Ergotherapie (DVE). Das liegt unter anderem daran, dass die Menschen immer älter werden und oft unter mehreren Krankheiten leiden. „Teilweise werden auch Dinge pathologisiert, die früher noch normal waren“, sagt sie. „Wenn ein Kind heute von der Norm abweicht, gilt es sofort als therapiebedürftig.“ Auch ein neues Phänomen schlägt durch: „Es kommen immer mehr Long-Covid-Patienten zu uns“, sagt Marlies Bellon. Außerdem beob­achtet sie eine Zunahme an Patien­ten aus dem Grenzbereich zur Psychotherapie. „Es kommen ­ver­stärkt sehr auffällige Kinder, die eher eine Familien- oder Psychotherapie bräuchten.“ Lange Wartezeiten und die Scheu vorm Gang zum Psychotherapeuten führen dazu, dass die Welle in die Ergotherapiepraxen hineinschwappt.

 

Wichtigster Punkt: Schulgeldfreiheit

Auf der anderen Seite fehlt es den Ergotherapiepraxen schlicht an Nachwuchs. Antje Maunz, Ergotherapeutin mit Praxis in Weilheim und verhandlungsführende Vertreterin des Bundesverbandes für Ergotherapeuten in Deutschland (BED), weiß warum: „Die Schulgeldfreiheit ist der Haupttreiber für den Fachkräftemangel“, sagt sie. Ganz besonders hart trifft es Baden-Württemberg. Im „Ländle“ müssen Ergotherapie-Schüler nach wie vor für ihre Ausbildung an sogenannten Ersatz- oder Ergänzungsschulen zahlen. Nicht selten kommen da schon mal fünfstellige Summen zusammen, die sich später schwer abstottern lassen.

„Alle anderen Bundesländer haben bereits den Wegfall des Schulgeldes für die ergotherapeutische Ausbildung umgesetzt“, gehen Antje Maunz und Julia Mischner auf ein gefährliches Ungleichgewicht ein. Es führt nämlich zu noch mehr Fachkräftemangel in Baden-Württemberg, da die Auszubildenden nach Bayern, Rheinland-Pfalz oder Hessen abwandern. Wie schwer es ist, Mitarbeiter zu finden, weiß Antje Maunz aus eigener Erfahrung. 2018 hatte sie noch fünf Vollzeitkräfte in ihrer Weilheimer Praxis eingestellt, jetzt ist sie alleine. „Ich finde niemanden“, sagt sie.

Seit August 2020 ist ­Antje Maunz im Rahmen ihrer Verbandstätigkeit im Gespräch mit den für die Therapieschulen Verantwortlichen im baden-württembergischen Sozialministerium und sieht einen Silberstreif am Horizont. „Bis 2023 soll die Schulgeldfreiheit umgesetzt werden“, sagt sie. Aus Sicht von Julia Mischner müsste die Ergotherapie-Ausbildung sogar komplett akademisiert werden. „Das ist in vielen anderen Ländern außerhalb von Deutschland schon längst so“, so die DVE-Sprecherin.

Die Politik ist gefragt

Und es gibt weitere Punkte, die verbesserungsbedürftig sind. „Die Sparte lebt vom Idealismus“, betont Marlies Bellon. Materielle Anreize fehlen. „Das Einstiegsgehalt in ambulanten Praxen liegt bei 1600 Euro brutto“, verdeutlicht Julia Mischner. Damit sich die Ausbildung überhaupt loht, sind höhere Gehälter notwendig. Die können die Praxen wiederum nur zahlen, wenn sich Grundlegendes ändert. „Neben der Ausbildungs- und Prüfungsordnung muss auch das Berufsgesetz überarbeitet werden“, fordert Julia Mischner. „Es stammt aus dem Jahr 1976 und spiegelt in keinster Weise die aktuellen Paradigmen in der Ergotherapie wider.“ Ganz wichtig seien auch Vergütungssteigerungen sowie Blankoverordnungen, bei denen die Therapeuten selbst über die Behandlungsart entscheiden. „Da ist die Politik gefragt.“

Abgesehen von finanziellen und strukturellen Änderungen steht noch etwas auf der Liste der Therapeutinnen und Therapeuten: „Wir wünschen uns mehr Anerkennung für unseren Beruf“, fordern sie. Denn der ist nicht nur anstrengend und anspruchsvoll, sondern wird auch immer wichtiger.

 

 

Das Ziel: Größtmögliche Selbstständigkeit im Alltag

Das Hauptziel von Ergotherapie ist es, den Patienten die Teilhabe am Alltag zu ermöglichen. Sie eignet sich für jeden wenn er im Alltag Einschränkungen erfährt, ob sie nun psychisch oder körperlich sind.

Behandelt werden beispielsweise Kinder, die Konzentrationsprobleme oder Schwierigkeiten beim Schreiben haben. Aber auch Menschen, die einen Schlaganfall oder einen Handbruch hatten, an Demenz oder Multipler Sklerose leiden, bekommen häufig Ergotherapie verordnet.

Ihren Fokus richten die Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten dabei nicht auf die Einschränkungen und Defizite, sondern auf die Ressourcen und die Möglichkeiten, den Alltag leichter zu gestalten. Sie helfen, größtmögliche Selbstständigkeit zu erlangen.

Während früher vor allem kreatives Gestalten im Mittelpunkt stand, arbeiten Ergotherapeuten und -therapeutinnen heute vor allem direkt an den Alltagsproblemen. Wenn etwa ein Patient Schwierigkeiten beim Aufschließen der Haustür hat, sind nicht nur motorische Übungen gefragt, sondern auch die Auswahl spezieller Hilfsmittel wie Schlüsselhalter. Zum Einsatz kommen aber auch Wahrnehmungsübungen, spielerische Therapien und Neuro-Feedback.​​​​​​

Ergotherapeuten und Ergotherapeutinnen arbeiten in ambulanten Praxen, aber auch in orthopädischen oder neurologischen Krankenhäusern, in Rehakliniken, an Förderschulen und in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.