Sollten in der evangelischen Kirchheimer Stadtkirchengemeinde künftig gleichgeschlechtliche Paare gesegnet werden? Zu dieser Frage konnte die Gemeinde Anfang dieser Woche in der Martinskirche Stellung beziehen.
An einem Tisch nahe des Eingangs bot sich den Besuchern die Möglichkeit, ihre Zustimmung oder Ablehnung mittels kleiner Holzmännchen auszudrücken, die auf einer entsprechenden Skala platziert werden konnten. Auf dem laminierten Schild mit der Aufschrift „Trauung für alle“ hatte sich schon nach wenigen Minuten eine beachtliche Figurengemeinschaft angesammelt. Abseits standen nur wenige.
Das Anliegen, eine Regenbogengemeinde zu werden, wurde schon zu Beginn des Jahres an den Kirchengemeinderat herangetragen. Er beschloss, das entsprechende Verfahren ins Rollen zu bringen. Neben den Stimmen der Ratsmitglieder muss auch die Haltung der Gemeinde in die finale Entscheidung mit hineinspielen. Sebastian Bugs, Pfarrer der Thomaskirche, merkte zu Beginn der Veranstaltung in der Martinskirche an, dass der Kirchengemeinderat den Beschluss eindeutig befürworte, betonte aber, dass noch nichts in Stein gemeißelt sei.
„Es handelt sich hier um eine Diskussion mit einer enormen Emotionalität auf allen Seiten“, stellte der Pfarrer fest. Dass diese Seiten die jeweils andere zumindest nachvollziehen können, hält er für äußerst wichtig. Auf progressiver Seite stelle sich demnach die Frage, ob die Kirche ein Ort ist, an dem alle Menschen gleichbehandelt werden. Ihr gegenüber stehe die konservative Seite, die versuche, das kirchliche Handeln am Zeugnis der Heiligen Schrift auszurichten.
Segnung im Sinne des Glaubens
Im Schriftverständnis, also der Frage, wie es diese zu interpretieren gilt, gäbe es zwei Herangehensweisen, erklärte Jochen Maier, Pfarrer der Martinskirche: Das fundamentalistische Verständnis, nach dem jeder Satz der Bibel wörtlich zu nehmen ist, und das in der heutigen evangelischen Kirche angenommene reformatorische Verständnis, nach dem die Aussagen anhand eines zentralen inneren Maßstabs – Jesus Christus und dessen Botschaft – beurteilt und unter Umständen neu bewertet werden.
Heute, erklärte der Pfarrer, habe man ein anderes Verständnis von Homosexualität als zur damaligen Zeit: Sie sei eben keine gewählte Eigenschaft und erst recht keine Krankheit, sondern Teil des persönlichen Mensch-Seins. Wenn man die Liebe als Maßstab für die Auslegung der Bibel sehe, könne man begründet zur Auffassung kommen, dass die Segnung homosexueller Partnerschaften heute im Sinn des christlichen Glaubens ist.

Auch Axel Rickelt, Pfarrer der Auferstehungskirche, sprach sich für die Segnung für alle aus. Diese Meinung habe er nicht immer vertreten, über die Zeit habe sich sein Bibelverständnis jedoch geändert: „An erster Stelle stehen für mich die Menschen in meiner Kirche, die sich so etwas wünschen.“
Zu Wort kamen an diesem Abend auch zwei Gäste: Die beiden Theologiestudierenden Aaron und Lisa unterstrichen die Wichtigkeit des Themas mit Impulsen und persönlichen Erfahrungen aus dem Leben als queere Christen.
Die Gemeinde ist offen für den Wandel
Ein überwiegend positives Stimmungsbild zeichnete die Gemeinde nicht nur bei der Männchenplatzierung sondern auch im Rahmen konkreter Meinungsäußerungen. Ein Jugendarbeiter verkündete: „Ich denke, ich kann für die komplette Jugendarbeit sprechen, wenn ich sage, dass wir offen für diesen Schritt sind.“ Es ginge schließlich immer noch um Menschen, die nur lieben wollen. Es sei wichtig, zu kommunizieren, dass die Kirche ein Ort sei, an dem sie das dürften.
„Für mich war das Versprechen vor Gott viel wichtiger als das vor dem Standesamt“, äußerte eine Frau aus der Gemeinde. Homosexuellen Paaren dies vorzuenthalten, fände sie äußerst schade.
Zum Abschluss wurden die Besucher eingeladen, sich in Kleingruppen zusammenzusetzen, miteinander in den Austausch zu treten und alle, für die Entscheidung des Kirchengemeinderats als relevant erachteten, Argumente sowie weitere Fragen auf kleine Zettel zu schreiben.
Am Donnerstagabend beschloss der Rat einstimmig, die Segnung für alle in den Kirchen der evangelischen Stadtkirchengemeinde einzuführen.
Gedanken aus der Gemeinde
Diese Anregungen haben Gemeindemitglieder dem Kirchengemeinderat mitgegeben:
- „Ich bin homosexuell (verheiratet), habe meine Frau in der Kirche kennengelernt und mich dann erst taufen lassen. Vielleicht schreckt es nicht nur ab, sondern bewegt auch zum Eintritt.“
- „Die Zeit ist reif für diesen Beschluss.“
- "Auch meine Meinung hat sich durch Kontakt zu Homosexuellen geändert.“
- „Es gibt schon viele Paare, die gar keinen Segen mehr wollen. Die, die ihn wollen, sollten ihn auch kriegen.“
- „Verschiedenheit in Sexualität gehört zur Schöpfung dazu.“
- „Wenn ich es richtig verstanden habe, ist der Prozess der Erlaubnis zur Segnung homosexueller Paare komplizierter als andere Veränderungen! Das ist meiner Meinung nach schon Diskriminierung."
- "Es gibt noch viel mehr, was eine Gemeinde tun kann.“
- „Ich bin für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und wünsche mir die Trauung."
Das interessiert die Gemeinde noch:
- "Wie gehe ich mit Bibeltexten um, die so gar nicht zu meinem Glauben passen?“
- "Wie gehen wir mit Outings um?“
- „Wie nehmen wir die Gemeinde mit? Was machen wir über Segnung hinaus?“
Rechtlicher Hintergrund
Der Bundestag beschloss im Jahr 2017, die Ehe für alle zu öffnen.
Im selben Jahr wurde der Landessynode ein Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Segnung homosexueller Paare in der evangelischen Kirche in Württemberg ermöglicht hätte. Der Antrag scheiterte an zwei Stimmen.
Im Frühjahr 2019 erhielt ein neuer Kompromissantrag die nötige Zweidrittelmehrheit. Damit ist es einem Viertel der evangelischen Gemeinden in Württemberg erlaubt, homosexuelle Paare zu segnen.
Voraussetzung dafür ist, dass drei Viertel des Kirchengemeinderats und drei Viertel der Pfarrschaft die Entscheidung befürworten. Außerdem muss die Meinung der Kirchengemeinde eingeholt und berücksichtigt werden.
Der Beschluss gilt nur für die Segnung, nicht aber für die Trauung, welche sich auf die Ehe bezieht und heterosexuellen Paaren weiterhin vorbehalten ist.