Kirchheim
Experte über deutsche Außenpolitik: Willkommen in der Wirklichkeit

Politik Michael Lüders hält den Deutschen, ihren Politikern und Medien den Spiegel vor. Es sei höchste Zeit, die eigene Hybris zu begraben. Von Peter Dietrich

Attac, Gewerkschaften, Kirchen, die Linke und der Rosa-Luxemburg-Club hatten gemeinsam eingeladen und die Auferstehungskirche war voll wie an Heiligabend. Wer die Zugriffszahlen der Videos von Michael Lüders und seine Fachbücher zur Geopolitik kennt, den wundert das nicht. Die Analyse, die er zur deutschen Außenpolitik bot, war erschreckend. Doch sie kam nicht verbissen daher, sondern mit Humor. Als Lüders die Story von der Pipelinesprengung mit der 15-Meter-Yacht kommentierte, war das Gelächter groß. Das sei so bescheuert, sagte er, dass kein Krimiautor bei seinem Lektor damit durchkommen würde.

Selektive Wahrnehmung

Man komme nicht so schnell hinterher, wie sich die Welt neu sortiere, sagte Lüders. Was viele Deutsche, vor allem Politiker und Medien nicht verstünden: Unsere deutsche Sichtweise sei nicht notwendigerweise auch die in anderen Teilen der Welt. An den Sanktionen gegen Russland hätten sich außer NATO und EU nur wenige ostasiatische Länder beteiligt. Laut einer UN-Untersuchung richteten sich 86 Prozent der weltweiten Demos der letzten Wochen gegen den Krieg in Gaza. Anders als etwa in Großbritannien gebe es bei uns nur wenige Politiker, die in geostrategischen Zusammenhängen denken könnten. „Wir halten uns für den moralisch am besten aufgestellten Teil der Welt, doch die Länder des Globalen Südens haben ihre Erfahrungen mit dem Kolonialismus und Imperialismus.“

Die USA blieben als einziger weltweiter Hegemon übrig, bis der Irak-Krieg 2003 ihre Ressourcen überforderte und 2008 die Wirtschafts- und Finanzkrise folgte. Heute liege China in Zukunftstechnologien in Führung, gegenüber Deutschland sowieso. „Innovationen gibt es bei uns vielleicht im Bereich der Bürokratie. Wir zehren von der Vergangenheit.“ Deutschland sei ein sehr selbstzufriedenes Land. „Die Deutschen haben ein Problem damit, in der Realität anzukommen.“ Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der BRICS-Staaten sei jetzt schon höher als das der EU. Aktuell liegt der EU-Anteil am weltweiten BIP bei 14,5 Prozent, im Jahr 2030 werden noch 10 Prozent erwartet.

Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte seien ja gut, aber diese Werte würden sehr selektiv wahrgenommen. Bei geopolitischen Gegenspielern des Westens wie Russland, dem Iran, China oder der Türkei spielten sie eine große Rolle, nicht aber bei befreundeten Nationen wie den USA oder Israel – oder bei Julian Assange.

Viel Heuchelei

Ehrlich über deutsche Interessen nachzudenken, falle den Entscheidungsträgern in Berlin sehr schwer. Es gebe eigentlich keine eigenständige deutsche Politik, man schaue zuerst zum großen Bruder in Washington. Es gebe kein anderes westliches Land, das so mit Russland und China im Clinch liege wie Deutschland. „Lieschen Müller stellt sich die Welt vor, wie sie mit einem Moralkosmos aus Bullerbü idealerweise sein sollte.“ Mit viel Heuchelei: Deutschland kaufe russisches Öl über Indien, nur um ein Vielfaches teurer. Energieintensive Industrie wandere ab. Der Moralismus sei eine Geißel der Politik geworden. „Das ist eine Pseudomoral, die keine wirklich ethische Grundierung hat. Wenn sie das hätte, würde sie überall gleichermaßen angewendet.“

Im Ukraine-Konflikt gebe es keine Diplomatie mehr von westlicher Seite. „Die Militärs wissen, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann.“ Friedensverhandlungen seien angesagt. Doch die Ukraine sei ein geopolitisches Schachbrett, verwies Lüders auf den Buchklassiker von Zbigniew Brzezinski: „Die Amerikaner haben ein vitales Interesse daran, dass es die Achse zwischen Moskau und Westeuropa nicht gibt.“

In der Ukraine und in Gaza gebe es eine Vorgeschichte. „In beiden Fällen hat der Westen einen erheblichen Anteil.“ Amerikanische Geostrategen hätten schon in den 1990er-Jahren gewarnt, die NATO-Osterweiterung nicht zu übertreiben. Gaza betreffend berichte die britische BBC deutlich neutraler als die ARD. Deren interne, 44-seitige Sprachregelung sei auf den Nachdenkseiten nachzulesen.

Nicht jeden Blödsinn mitmachen

„Es ist schön, dass wir Verbündete haben“, sagte Lüders, „aber man muss nicht jeden Blödsinn der Verbündeten mitmachen.“ Er wünscht sich stattdessen Diplomatie und echten Humanismus für gleichermaßen alle Opfer von Krieg und Gewalt.

Lüders Kritik, viele deutsche Politiker könnten die Interessen des eigenen Landes nicht formulieren, griff ein Zuhörer in der ausführlichen Fragerunde auf: Was seien denn diese Interessen? Es gelte, den Frieden zu bewahren und wo nötig wieder herzustellen, antwortete Lüders. Deutschland solle für die Deeskalation und für einen Interessensausgleich zwischen den Ländern arbeiten. Es sei auch Aufgabe der Regierung, das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes nicht zu gefährden – etwa durch Inflation und sozialen Kahlschlag. Die Kommunen stöhnten aktuell unter den hohen Energiepreisen und der Flüchtlingsunterbringung, in Nordrhein-Westfalen drohe vielen Kommunen ab Ende 2024 die Zwangsverwaltung.

Es gehe darum, so wie einst Helmut Schmidt, die Welt realistisch zu betrachten – und dann mit Augenmaß und Pragmatismus zu handeln.