Kirchheim
Fast wie im Agententhriller

Zeitzeuge Wie die christliche Jugendarbeit in der DDR behindert wurde, das kennt Albrecht Kaul aus 40 Jahren Tätigkeit. Sein Bericht im Alleenforum des Christusbundes war fesselnd und humorvoll. Von Peter Dietrich

Um das Kreuzverhör von Staatssicherheit und Co., mit gleichzeitig acht Befragern, war Albrecht Kaul nicht zu beneiden: „Wer hat die Fotoausrüstung?“ Kaul blieb standhaft, doch einmal rutschte ihm der Vornamen „Klaus“ raus. Zum Glück gab es den Namen in der Jungen Gemeinde, also der kirchlichen Jugendarbeit, dreifach. Trotzdem: Kaul musste den Klaus, in dessen Dunkelkammer sie die Einladungen vervielfältigt hatten, warnen. Wer in der DDR offen als Christ lebte, konnte ein Studium in der Regel vergessen, Klaus hatte es aber geschafft, Ernährungswissenschaft zu studieren. Kaul wusste: Würde die Ausrüstung bei Klaus entdeckt, sein Studium wäre sofort zu Ende.

Er wusste aber auch, dass er überwacht und das Telefon abgehört wurde. Also nahm er wie im Agententhriller die Straßenbahn, ging dann zu Fuß, fuhr wieder Straßenbahn, fuhr zwischendurch mit dem Bus an den Stadtrand, war so lange zu Klaus unterwegs, bis er eventuelle Verfolger abgeschüttelt hatte. „Räum aus“, riet er Klaus, „und wenn du etwas wegwirfst, dann in den Mülleimer des übernächsten Nachbarn.“ Die Angst währte lange Tage. Dass die Stasi dann doch nicht zur Hausdurchsuchung kam, schreibt Kaul der göttlichen Bewahrung zu – die er immer wieder erlebt hat. 350 Mark Strafe hat ihn die Vervielfältigung, der „Missbrauch der Fotoausrüstung zu religiösen Zwecken“ trotzdem gekostet. „Das war damals das Monatsgehalt eines ­Diakons.“

Bei der mit einem Linolschnitt erstellten Werbung für einen Jungscharnachmittag musste er rund 150 Ostmark Strafe zahlen. Eine Helferin traf es noch weit schlimmer: Die Logopädin verlor wegen der Einladung ihren Job und war danach zehn Jahre arbeitslos.

Der Christusbund hatte Kaul zum Tag der Deutschen Einheit in sein neues Alleenforum eingeladen, die Reihen waren gut gefüllt. Kaul bot zugleich den großen politischen Rahmen und viele persönliche Erlebnisse. Er beschrieb, wie nach dem verlorenen Krieg 12 000 Kilometer Eisenbahngleis, jede zweite Lok und viele Fabriken in die Sowjetunion abtransportiert wurden. Nicht nur das: Auch neu entwickelte Patente wurden „als Geschenk“ dorthin übergeben. „Das war demütigend.“ Er zog Parallelen zu 40 Jahren danach und warb um Verständnis für die Ostdeutschen: „Da waren Produkte so gut, dass wir sie bei uns gar nicht kaufen konnten, sie gab es nur im Westen bei Quelle, Neckermann und Ikea. Doch plötzlich war das alles nichts mehr wert.“

Viele Eltern ließen ihre Kinder zur staatlichen Jugendweihe statt zur Konfirmation, weil sie ihren Kindern die Zukunft nicht verbauen wollten. Die Kirche hatte aber eine gute Idee: Wer nach der Jugendweihe ein Jahr lang aktiv in die Junge Gemeinde und die Gottesdienste kam und dadurch zeigte, dass es ihm wichtig war, wurde ein Jahr später nachkonfirmiert. Viele Jugendliche fanden in diesem Jahr zum christlichen Glauben und blieben dabei. 

Wenn die Bundesrepublik politische Häftlinge freikaufte, hing der Preis vom Beruf ab. Ein Pfarrer war mit 10 000 Westmark recht billig, ein Zahnarzt mit 80 000 Westmark erheblich teurer. „Da hat die DDR manchen Maurer zum Architekten gemacht“, so Kaul.

Schwerter zu Pflugscharen

Die mit der Friedensdekade ab 1981 eingeführten Aufnäher mit dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ zeigten ein Kunstwerk, das die Sowjetunion der UNO geschenkt hatte, war also eigentlich vom Staat nicht zu bemängeln. Trotzdem schnitt die Stasi manchem Jugendlichen auf der Straße den Aufnäher aus der Jacke, zurück blieb ein Loch. Daraufhin schnitten sich andere Jugendliche ebenfalls Löcher – sie brauchten den Aufnäher gar nicht mehr, die Bedeutung war auch so klar.

Von 1981 bis 1989 trafen sich Leipziger jeden Montag zum Friedensgebet, lange im kleinen Kreis. Als am 2. Oktober 1989 dann 20 000 kamen, wollte die Staatsmacht das Treffen eine Woche später zerschlagen. Am 9. Oktober standen Einheiten in den Seitenstraßen bereit, Krankenhäuser waren vorbereitet, Blutkonserven aus dem ganzen Land zusammengezogen. Der Einsatzbefehl wurde im letzten Moment zurückgezogen. „Auf 20 000 waren wir vorbereitet, auf 70 000 nicht“, zitierte Kaul einen Leipziger Offizier. „Es hätte ein riesiges Blutbad gegeben.“

Einen Monat später war die Grenze offen, mit dem legendären „unverzüglich“ von Günter Schabowski. „Damit war die DDR im Grunde zu Ende“, sagte Kaul. Er sieht in dieser friedlichen Revolution, die es nirgendwo sonst in der Geschichte gegeben habe, ein „Wunder Gottes“.

350

Mark Strafe musste Albrecht Kaul für den „Missbrauch der Fotoausrüstung zu religiösen Zwecken“ zahlen.