Vom Besuch des Künstlers Felice Varini im Fachwerkstädtchen Kirchheim im vergangenen Winter hat kaum jemand etwas mitgekriegt. Wenn er das nächste Mal anreist, wird das anders sein: Der renommierte Fassadenkünstler wird von Oktober bis Januar mit einer temporären Intervention hier von sich reden machen. „Douze points pour six droites“ lautet der Titel, auf deutsch: Zwölf Punkte für sechs Geraden.
Weltweit hat der 70-Jährige schon von sich reden gemacht, unter anderem machte er die französische Festungsstadt zur gelben Zielscheibe. In
Deutschland war er erst einmal, nämlich 2017 in Osnabrück. Kirchheim wird also erst die zweite deutsche Stadt sein, in der Varini Spuren hinterlässt.
Zum Glück hat sich der Fassadenkünstler, als er auf Einladung des Kunstbeirats die Teckstadt erkundete, sogleich in Kirchheim verliebt. Das zumindest berichtet Florian van het Hekke. Er ist Mitglied im Kunstverein und Kurator der Ausstellung. Als Architekt und Inhaber der Professur für Grundlagen des Entwerfens, Gestaltens und Darstellens an der FH Erfurt setzt er sich schon seit geraumer Zeit theoretisch mit Varini auseinander. „Ich fand ihn schon immer faszinierend“, räumt er ein, weswegen er die Idee, den gebürtigen Schweizer nach Kirchheim zu holen, im Kunstverein einbrachte. Was den Architekten besonders anspricht, ist die spannende Perspektive auf Varinis Werk, die sich vor allem da zeigt, wo sich die Stadt verdichtet. Varini kommt ursprünglich aus der Malerei, hat aber keine Leinwand: „Seine Leinwand ist der Stadtkontext“, erläutert van het Hekke.
Entsprechend unübersehbar präsentieren sich die Installationen des Fassadenkünstlers. Mauern, Türme, Straßen werden zum Bezugsfeld für farbintensive Eingriffe. Meist arbeitet der Künstler mit geometrischen Formen. Sein Werk wird unweigerlich zum Stadtgespräch weit über die Grenzen der jeweiligen Projektionsfläche hinaus.
Genau aus diesem Grund fand sich auch der Gemeinderat bereits, etwas mehr Geld als ursprünglich geplant für das Projekt lockerzumachen. Die temporäre Intervention wird insgesamt 117 000 Euro kosten, im Wesentlichen finanziert durch die Stadt und den Kunstbeirat, der seinerseits auch jährliche Zuschüsse von der Stadt erhält. Gegenüber der ursprünglichen Planung hat sich das Vorhaben aufgrund von einzurechnender Umsatzsteuer und wichtiger Öffentlichkeitsarbeit um 25 000 Euro verteuert. Weitere Zusatzkosten für einen Hubsteiger in Höhe von über 15 000 Euro entfallen voraussichtlich, da hier ein privater Spender in die Bresche springt.
Seitens der Stadt wurde vorgeschlagen, den Zuschuss um 5000 Euro zu erhöhen, ansonsten aber die Mittel im wesentlichen durch Zuschusskürzungen für den Kunstbeirat in den kommenden Jahren zu erzielen. Doch die Stadträte sahen das anders. „Das ist Stadtmarketing!“ legte sich SPD-Verteterin Marianne Gmelin für die Kunst ins Zeug. Schließlich bringe die Ausstellung der Stadt viel Positives und verleihe dem städtischen Raum neue Sichtbarkeit. Varinis Werke sorgten weltweit für Aufsehen, und im Übrigen arbeite der Kunstverein seit vielen Jahren effektive ehrenamtliche Arbeit. „Warum sind wir das so päp?“ fragte Gmelin auf schwäbisch und beantragte, die fehlenden 20 000 Euro dem Verein zur Verfügung zu stellen. Unterstützung erhielt sie von Ute Dahner von den Linken. Sie plädierte dafür, den Kunstverein, der seine Qualität oft genug bewiesen habe, nicht einzugrenzen. Die Aktion bringe der Stadt Renommee, Aufmerksamkeit und Publikum.
Mit 19 Befürwortungen, 9 Gegenstimmen und 9 Enthaltung erhielt der Antrag der SPD eine Mehrheit, und der Kunstverein erhält die fehlende Summe zusätzlich.
Vom Kunstbeirat und Felice Varini
Seit 1979 organisiert der Kunstbeirat Ausstellungen in der Städtischen Galerie im Kornhaus beziehungsweise seit dem Umbau des Kornhauses ab 2020 an anderen Orten. Der Kunstbeirat setzt sich derzeit zusammen aus Florian van het Hekke, Susanne Jakob, Heiderose Langer, Monika Schaber, Steffen Schlichter, Stef Stagel und Hannelore Weitbrecht.
Von Oktober 2022 bis Januar 2023 soll die aufsehenerregende temporäre Intervention in der Max-Eyth-Straße zwischen Kornhaus und Rathaus raumgreifend zu sehen sein. Varini arbeitet grundsätzlich vor Ort und mit dem Ort. Für seine künstlerischen Eingriffe nutzt er die Oberflächen städtischer Architektur und thematisiert deren Geschichte und Funktion.
„Douze points pour six droites“ erstreckt sich von 12 Punkten in den Stadtraum, von denen reflektierende Metallbänder in unterschiedlicher Breite diagonal über Hauswände, Giebel und Dächer gezogen werden, um sich optisch zu einem sternartigen Gebilde zu vereinen. Der Künstler bedient sich der Technik der anamorphosen Illusion, die vor allem im Barock beliebt war. ist