Über das Wetter oder noch fehlende Weihnachtsgeschenke redet keiner. „Bluthochdruck – kardiologische Probleme – Öffnungszeiten der Praxis“ sind dagegen Gesprächsfetzen, die durch Foyer, Aufzug und Vortragssaal schwirren. Die Ärztedichte im Publikum ist beim „Heilberufe-Dialog“ der Kreissparkasse Esslingen hoch. Die Diskussionsrunde am Ende ist gespickt mit Fachfragen, Fachjargon, Fachsimpeln. Der Referent indes ist bemüht, nicht nur für ein Fachpublikum zu dozieren. Professor Hendrik Streeck, nach Christian Drosten Deutschlands Corona-Vorzeigevirologe Nummer zwei, breitet seine streitbaren Pandemiethesen gut verständlich aus.
Er ist überraschend sympathisch. Die leicht überheblich-besserwisserische Note mancher TV-Auftritte hat er live nicht. Hendrik Streeck, leger in weißem Hemd, Sakko und Jeans, wärmt die Corona-Suppe oft gehörter Pandemieweisheiten nicht auf. Er weckt mit frischen Aussagen Aufmerksamkeit für ein Thema, das durch seine ermüdende Dauermedienpräsenz viel an Aufmerksamkeit verloren hat. Der vergangene Sommer, sagt der 45-jährige Humanmediziner, sei eine Virusboom-Jahreszeit gewesen. Offiziell hätten sich pro Tag fast 300 000 Menschen infiziert, mit Blick auf die Dunkelziffer seien es aber wohl drei Millionen gewesen.
Diese hohen Zahlen aber, so der gebürtige Göttinger, hätten weder die Kliniken übermäßig belastet noch zu gesellschaftlichen Einschränkungen geführt. Der im Sommer erreichte Immunschutz durch die hohen Erkrankungszahlen halte noch vor. Das sei eine mögliche Erklärung für den bisher recht ruhigen Covid-19-Herbst. Corona werde aber nicht verschwinden – man müsse lernen, damit zu leben. Das Virus werde im nächsten Herbst und Winter wiederkommen. Sommerwellen seien möglich, doch eher unüblich. Temperaturen, UV-Strahlung oder Luftfeuchtigkeit könnten eine Rolle spielen.
Doch wie lebt es sich mit einer tödlichen Bedrohung? Hendrik Streeck hat dafür eine Theorie: „Mit nur zwei Prozent der Kosten der Covid-19-Pandemie können wir künftige Pandemien verhindern.“ Denn in den unergründlichen Weiten von Regenwäldern und anderen Vegetationen würde es unbekannte Tierarten mit unbekannten Viren geben. Ihre Übertragung auf den Menschen müsse verhindert werden. Wichtig seien der Artenschutz, die Vermeidung von Abholzungen und die Distanz zum Menschen.
Solche Aussagen verdeutlicht er mit einer Mischung aus Information und Entertainment. Die Immunität würde zunehmen. In Deutschland beziffert er sie zwischen November 2021 und Februar 2022 mit 92 Prozent. Aktuell liege sie vermutlich bei 95 Prozent. Ideal sei ein Mix aus Impfung und Infektion. Dreimal Geimpfte hätten einen Schutz vor einem schweren Verlauf von 97,3 Prozent. Haben sie auch noch eine Infektion durchgemacht, seien sie zu 100 Prozent vor schweren Verläufen geschützt.
Viel wurde und wird von Experten und Nichtexperten verbal an dem Virus herumgedoktert. Ein Mann aus dem Publikum meint, er und seine Frau, eine Ärztin, seien nicht geimpft. Gegen Corona würden auch Bewegung, Vitamine und eine gesunde Lebensweise schützen. Hendrik Streeck laviert sich um die Antwort herum. Als Schulmediziner glaube er an Fakten und wissenschaftlich belastbares Material, weicht er aus. Fakten aber kann er liefern. 70 Prozent der Ansteckungen würden im Privaten erfolgen. Masken seien bedingt effizient, denn sie führten zu einer 20-prozentigen Reduktion der Übertragungsfähigkeit. Das Tragen solle optional und nicht zwingend erfolgen. Jeder solle entscheiden, ob er das wolle oder nicht.
Manche Anti-Corona-Regelungen hält der Virologe für diskussionswürdig – etwa dass beim Oktoberfest ein Mund-Nasen-Schutz nicht vorgeschrieben sei, wohl aber in den öffentlichen Verkehrsmitteln bei der Anfahrt. Geschätzte 20 000 Corona-Varianten würden pro Jahr entstehen. Das Gros würde sich nicht durchsetzen, nur die ganz Harten würden bestehen. So ein Erreger würde nicht denken und könne sich nicht ohne Wirt vermehren. Aber er könne Überlebensvorteile haben: Übertragbarkeit vom Menschen auf den Menschen, Fluchtmöglichkeiten vor dem menschlichen Immunschutz oder die Fitness, also die Fähigkeit zur Vermehrung in den Zellen, würden beim Fortbestehen helfen. Am Ende werde sich wohl der Omikron-Subtyp XBB durchsetzen.
Hendrik Streeck präsentiert sich gut an diesem Abend. Sein Abgang ist ökologisch vorbildlich. Er müsse noch auf den Zug, sagt er. Seine Thesen aber werden zügig kritisch hinterfragt. Das Publikum fachsimpelt wieder. „Impfrisiken – Immunität – Masken tragen“ sind Gesprächsfetzen, die durch Vortragssaal, Aufzug und Foyer schwirren.