Kirchheim
Friedensnobelpreisträger: Memorial lässt sich nicht verbieten

Vortrag Die russische Nichtregierungs-Organisation Memorial International erhält am 10. Dezember den Friedensnobelpreis. Ein Mitglied hat in Kirchheim über den Kampf für Menschenrechte gesprochen. Von Antje Dörr

Hat die deutsche Friedensbewegung zu spät anerkannt, welchen Repressalien russische Menschenrechtsorganisationen in ihrem Land ausgesetzt sind? Die Einleitung von Karl-Heinz Wiest, Sprecher der Pax Christi-Gruppe Kirchheim, hört sich wie ein solches Bekenntnis an. Als das ehemalige Vorstandsmitglied der mittlerweile in Russland verbotenen Organisation Memorial International, Dr. Vera Ammer, nach Kirchheim eingeladen worden sei, habe man noch nicht gewusst, dass die Organisation wenige Tage nach dem Vortrag den Friedensnobelpreis erhalten werde, sagte Wiest. Insofern könnte man die Planung als gut bezeichnen. Und doch komme die Einladung spät. „Wir haben die letzten Jahre zu wenig darauf geschaut, wie die Entwicklung in Russland sich vollzogen hat“, so Wiest. „Hätten wir es getan, wäre der Schock am 24. Februar auch für uns in der Friedensbewegung etwas geringer ausgefallen.“

Am 24. Februar hat bekanntlich der Ukrainekrieg begonnen – entfesselt vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, der laut Vera Ammer schon Jahre zuvor mit dem Versuch begonnen hat, Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) systematisch mundtot zu machen. Die Schikanen erreichten ihren Höhepunkt, als Memorial International und das dazu gehörende Menschenrechtszentrum Ende Dezember 2021 in Russland verboten wurden. Die NGOs klagten gegen das Verbot und unterlagen Ende Februar, nur wenige Tage nach Kriegsbeginn. Beobachter glauben, dass Wladimir Putin mit dem Verbot Kritiker im eigenen Land vor Beginn des Krieges ausschalten wollte. 

Während der Perestroika gegründet, hatten die Organisationen, die sich in der ganzen ehemaligen Sowjetunion verteilt unter dem Dach von Memorial trafen, zunächst mit keinerlei Restriktionen zu kämpfen. Anfang der 90er Jahre erfolgte die offizielle Gründung. Memorial hatte sich hauptsächlich der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen verschrieben, erstellte umfangreiche Datenbanken zu den Todesopfern, band die Jugend über Schülerwettbewerbe ein. Memorial organisierte Lesungen der Namen von Menschen, die im Stalinismus erschossen worden waren. Lesungen, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein toleriert wurden, so Dr. Vera Ammer. Auch „Die letzte Adresse“, das Anbringen von Schildern an ehemaligen Häusern von Opfern des Stalinismus – ähnlich den Stolpersteinen – geht auf das Konto von „Memorial“. 

2005 drehte sich der Wind. Damals trat das Gesetz über unabhängige Organisationen in Kraft. Stein des Anstoßes waren Fördergelder, die Organisationen wie Memorial International von Stiftungen aus dem Ausland, unter anderem von deutschen und amerikanischen Stiftungen, erhielten. „Anders hätten wir gar nicht arbeiten können, denn aus Russland haben wir ja nichts bekommen“, sagt Dr. Vera Ammer, die Philosophin, Historikerin und Slawistin ist und als freie Übersetzerin arbeitet. Die NGOs mussten künftig genaue Rechenschaft über Projekte ablegen, für die sie Geld ausgegeben hatten. „Damals fanden das alle ganz furchtbar, aber das war noch gar nichts im Vergleich zu heute“, sagt Ammer.

Als Wladimir Putin im Jahr 2012 Präsident wurde, nahmen die Schikanen gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen weiter zu. Proteste seien brutal unterdrückt worden. Das Gesetz, das Memorial in den kommenden Jahren das Leben schwer machen und am Ende zur Auflösung der Organisation führen sollte, war das sogenannte Agentengesetz. „Demnach ist eine NGO, die aus dem Ausland Gelder bekommt, ein ausländischer Agent“, erklärt Ammer. Auf allen Publikationen, auch in den sozialen Medien, müsse man somit angeben, dass man „ein ausländischer Agent“ sei. Bei Nicht-Deklaration drohten Strafen, die sich im Fall von Memorial International so summierten, dass die NGO die Summe über Crowdfunding zu decken versuchte – mit Erfolg. „Das muss die Behörden furchtbar geärgert haben“, sagt Ammer. Daneben sei es zu weiteren Schikanen gekommen, die alle NGOs, auch Memorial, getroffen habe. Beispielsweise sei die Steuerprüfung vor der Tür gestanden, um zu überprüfen, „ob wir nicht ausländische Agenten sind“. 

Bei solchen Untersuchung sei meistens ein Fernsehteam mit dabei gewesen. „Daraus wurden dann Hetzsendungen zusammengestellt, in denen Memorial unterstellt wurde, mit Terroristen zusammenzuarbeiten oder eine Zweigstelle des amerikanischen Geheimdiensts zu sein“. Solche Fernsehsendungen müsse man einbeziehen, wenn man sich frage, warum in Russland Menschen auf Putins Propaganda hereinfallen, sagt Ammer. „Wenn man die ganze Zeit solchen Sendungen ausgesetzt ist, glaubt man das irgendwann“. 

Info Veranstalter des Vortrags im Katholischen Gemeindehaus Sankt Ulrich waren Pax Christi Kirchheim, DFG/VK Neckar-Fils und die Friedensinitiative Kirchheim FIN.K.

Wie es nach dem Verbot weitergeht

„Memorial kann man nicht verbieten“, sagt Dr. Vera Ammer. Man strebe die Neugründung eines internationalen Verbands mit Sitz außerhalb von Russland an. Das Menschenrechtszentrum habe einen Verein gegründet, der unter anderem Namen weiterarbeitet. Telegram dient als Organisations-Plattform. Die Bedingungen sind durch das Verbot aber erheblich erschwert worden. Die Gebäude von Memorial International wurden untersucht und beschlagnahmt, Konten gesperrt. Russische Memorial-Verbände sind zwar offiziell nicht verboten, geraten aber immer mehr unter Druck, sagt Vera Ammer. Memorial-Mitglieder engagieren sich weiter, aber im Verborgenen. adö