Kirchheim
Gebraucht, geduldet, totgeschwiegen

Pflege Das Grundsatzurteil zum Mindestlohn für ausländische Kräfte wirft ein schlechtes Licht auf die Politik. Pflegedienste beklagen seit Langem ein System, das ohne Schwarzarbeit nicht funktioniert. Von Bernd Köble

Es gibt Missstände, an denen die Mehrheit aller Beteiligter gar nichts ändern will und die doch zeigen, dass etwas gewaltig faul ist. Die Organisation und Finanzierung der häuslichen Pflege in diesem Land gehört dazu. Seit dem Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts, das ausländischen Pflegekräften den gesetzlichen Mindestlohn auch in Bereitschaftszeiten zusichert, sind Angehörige und Pflegedienste aufgeschreckt und die Politik in Zugzwang. 24-Stunden-Pflege zu Hause wäre demnach in der Praxis nur noch durch zusätzliches Personal und ergänzende Dienste möglich, für die es bisher weder ausreichend Kapazitäten noch das nötige Geld gibt. Wird Pflege zu Hause also unbezahlbar?

Jutta Kümmerle hört solche Sorgen seit dem Urteil oft. Dabei kommt der Richterspruch weder für sie noch für die Politik überraschend. „Das eine solche Klage anliegt, wissen wir seit einem Jahr“, sagt die Pflegeberaterin aus Esslingen, die sich seit sieben Jahren auf die Vermittlung von 24-Stunden-Betreuungskräften konzentriert. Ihr Unternehmen hat inzwischen rund 200 Haushalte unter Vertrag und ist damit einer der größten Anbieter im süddeutschen Raum. Sie arbeitet ausschließlich mit zertifizierten Partnern zusammen, die sich vor Ort - zumeist in Osteuropa - um Personalpools und pflegerische Ausbildung kümmern.

Dass die Arbeitszeit in diesem System der Schwachpunkt ist, sei immer klar gewesen, sagt Jutta Kümmerle. „Mit der jetzigen Debatte tut sich aber keine Seite einen Gefallen.“ Die Klage einer bulgarischen Pflegekraft, die zum Urteil geführt hat, deckt sich offenbar nicht mit der Haltung der Mehrheit in der Branche. „Die Leute wollen kommen, und sie werden dringend gebraucht“, sagt die Pflegeberaterin. Kümmerle, die drei Mitarbeiterinnen beschäftigt, hat früh auf die Situation reagiert. Mehr als die Hälfte der Pflegekräfte, die sie vermittelt, arbeitet inzwischen als Solo-Selbstständige, die in Deutschland Sozialbeiträge bezahlen. Sie können frei entscheiden, wie und wie lange sie für ihren Lohn arbeiten. Die andere Hälfte ist bei Agenturen im Heimatland in festen Beschäftigungsverhältnissen. Zwischen 1 400 und 1 800 Euro netto verdient eine selbstständige Pflegekraft. Das ist für viele der meist weiblichen Kräfte aus Polen, Ungarn oder Rumänien gut verdientes Geld, liegt aber weit unter dem, was der Mindestlohn gemessen an der Arbeitszeit vorgibt. Zwar ist die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden begrenzt. Meist wird jedoch frei ausgehandelt, was passiert, wenn jemand nachts Hilfe braucht. „Wir wissen alle, dass 24-Stunden-Pflege nur ein Arbeitstitel ist“, sagt Jutta Kümmerle.

90 Prozent arbeiten illegal

Was viele in der Politik nicht wahrhaben wollen und gerne verschweigen: Nach Einschätzung des Bundesverbands für häusliche Pflege arbeiten rund 90 Prozent der ausländischen Kräfte hierzulande illegal, sind überdies gar nicht oder nur schlecht ausgebildet. CDU-Gesundheitsexperte Michael Hennrich, spricht von einer „Grauzone“, die man über viele Jahre bewusst toleriert habe, weil es eben funktioniert hat. Jutta Kümmerle nennt es Doppelmoral: „Auf der einen Seite wird die häusliche Pflege nicht ausreichend finanziert“, sagt sie, „auf der anderen Seite spart die Pflegekasse durch Schwarzarbeit enorm viel Geld.“

Dass sich an der Finanzierung schnell etwas ändern muss, betont auch Hennrich. Mit der von der SPD ins Spiel gebrachten Bürgerversicherung löse man das Problem jedoch nicht, ist der Berliner Abgeordnete überzeugt. „Pflege bleibt immer eine Teilkaskoversicherung“, sagt er. „Alles andere würde den Sozialstaat überfordern.“ Der CDU-Politiker plädiert deshalb für eine höhere Steuerfinanzierung und einen Ausbau ambulanter Zusatzdienste, einer Art Baukastensystem in der 24-Stunden-Betreuung. Das Problem: Das Thema wird frühestens im Herbst nach der Bundestagswahl auf der politischen Agenda stehen. Bis neue Regeln greifen, bewegen sich alle Beteiligten weiterhin juristisch in einer Grauzone, vorausgesetzt beide Seiten akzeptieren dies.

Eine Bürgerversicherung, in die alle einzahlen und aus der alle die gleiche Leistung erhalten, wäre für Nils Schmid, den SPD-Bundestagsabgeordneten im Wahlkreis, eine Option. „Der Schutz einer Bürgerversicherung wäre hier am einfachsten, weil private und gesetzliche Pflegeversicherungen eine vergleichbare Leistungsstruktur haben“, sagt er. Für ihn ist aber auch klar: „Man kann mit angemessenen Löhnen in der Pflege nicht warten, bis eine Bürgerversicherung eingeführt wird.“ Geld für mehr Leistung, für gerechtere Bezahlung, in einer Gesellschaft, die immer älter wird, das geht auch für den SPD-Mann mittelfristig nur über zusätzliche Steuermittel. Schmid: „Weil das gerechter ist als nur über Sozialbeiträge.“

Sozialverbände wie der VdK üben harte Kritik angesichts jahrelanger Versäumnisse. Während die Bundesvorsitzende Verena Bentele darin eine „Bankrotterklärung für das ambulante Pflegesystem“ sieht, spricht Wolfgang Latendorf, Vorsitzender im Kreisverband Esslingen, von moderner Sklavenhalterei. „Es muss mehr Geld ins System und zwar schnell“, sagt er. „Ganz egal, ob aus Steuern oder aus Beiträgen.“