Kirchheim
Gedenken im Zeichen der Gegenwart

Geschichte Die Gedenkstunde zur Reichspogromnacht setzte ein Zeichen gegen Antisemitismus. Der Historiker Thomas Stöckle informierte über die Euthanasieverbrechen von Grafeneck. Von Florian Stegmaier

Wie ein Brennglas fokussiert der 9. November Zäsuren deutscher Geschichte. Die Ausrufung der Weimarer Republik 1918 und der Fall der Berliner Mauer sind damit verbunden. Am 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler, sich an die Macht zu putschen. Auch die Reichspogromnacht 1938, in der Synagogen brannten und Tausende jüdische Mitbürger misshandelt und getötet wurden, fällt auf dieses Datum.

Eine besondere Verantwortung

Der 85. Wiederkehr der Novemberpogrome war eine Gedenkstunde in der Kirchheimer Auferstehungskirche gewidmet. „In diesem Jahr hat der Tag eine besondere Stellung“, betonte Peter Treuherz vom evangelischen Bildungswerk. In Folge der jüngst an israelischen Zivilisten verübten Massaker ist ein drastischer Anstieg antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen. In Deutschland leben Juden wieder in Angst. „Christlicher Glaube und Judenfeindschaft schließen einander aus“, hielt Dekan Christian Tsalos fest. Er verwies auf die verbindende Kraft gemeinsamer geistlicher Wurzeln: „Auch das Neue Testament ist nur im jüdischen Kontext zu verstehen.“ Christen stünden in besonderer Verantwortung für die Überwindung von Antisemitismus. Tsalos bekräftigte die Solidarität der Kirche mit den jüdischen Geschwistern.

Kirchheims Oberbürgermeister Dr. Pascal Bader rief dazu auf, aktiv Zeichen für Toleranz und Menschenfreundlichkeit zu setzen: „Der Widerstand gegen Antisemitismus ist aktueller denn je“. Die Geschichte lehre, dass der Mut, sich für Menschlichkeit einzusetzen, nie vergebens sei. Politische Bildungsarbeit müsse verstärkt die jüngere Generation ansprechen, so Bader.

Einer solchen Bildungsarbeit ist auch die Gedenkstätte Grafeneck verpflichtet. Thomas Stöckle, Historiker und Leiter der Gedenkstätte, gab einen profunden Abriss zu den Euthanasie-Verbrechen im deutschen Südwesten. Im Verlauf der „Aktion T 4“, die der systematischen Tötung von sogenanntem „lebensunwerten Leben“ galt, wurden allein im Jahr 1940 in Grafeneck 10 654 Personen ermordet. Der von den Tätern als „Gnadentod“ bemäntelte Massenmord markiert den Beginn der systematischen und industriellen Vernichtung von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland. Daher sieht Stöckle die Vorgänge von Grafeneck als „Bindeglied zwischen den Novemberpogromen von 1938 und dem Beginn des Holocaust 1941“.

Auf dem Gelände des bei Münsingen gelegenen Schlosses hatten die NS-Täter eine stationäre Gaskammer installiert. So zieht sich eine direkte Linie von der Schwäbischen Alb nach Auschwitz. Denn die Tötungstechnologie von Grafeneck fand Anwendung für den Mord an den europäischen Juden. „Das war ein sehr bürokratisches und kaltes Verbrechen“, sagte Stöckle. Ein in Grafeneck eingerichtetes Sonderstandesamt stellte gefälschte Todesurkunden aus. So sollten die Morde verschleiert werden. Die Opfer waren Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, denen eine geringe Leistungsfähigkeit attestiert wurde. „Sie waren alle in Anstalten und damit der „Volksgemeinschaft“ hinderlich“, führte Stöckle aus. Der inhumane Zeitgeist deklarierte sie als „unnütze Esser“ und „Defektmenschen“.

Auch Personen, die als Juden den rassischen Normen nicht genügten, zählen zu den Opfern von Grafeneck. Für den Historiker ist dies ein Beleg, dass das arbeitsteilige Großverbrechen Rassismus mit Eugenik verschränkt habe: „Für die Täter war das eine Einheit“. Der von Andrés Ruiz-Sará am Violoncello und der Pianistin Jingmei Zhao musikalisch begleiteten Gedenkstunde gelang nicht nur ein historischer Brückenschlag. An die zahlreichen Besucher erging auch ein Appell zur Wachsamkeit und zum gesellschaftlichen Engagement.