Kirchheim. Seiner Heimat gewaltsam entrissen, auf der Flucht vor einem mörderischen Regime, stellt Walter Benjamin fest, dass jedes Dokument der Kultur zugleich eines der Barbarei ist. Denn schon die Tatsache, dass es sich im Prozess der Überlieferung hat behaupten können, verweist auf all das, was von ihm verdrängt wurde: auf die Schicksale derer, die keine Deutungsmacht erlangen konnten. Ebenso auf den schwer zugänglichen Bezirk subjektiv erfahrenen Leids, das unverarbeitet in den Generationen weiter wirkt.
Insbesondere der Literatur eröffnet sich hier eine verantwortungsvolle Aufgabe. Literatur ist mehr als ein kollektiver Gedächtnisspeicher. Poesie kann ihre Fühler auch dorthin ausstrecken, wo wissenschaftliche Geschichtsschreibung an Grenzen stößt. Ästhetische Mittel vermögen selbst sensibelste Innenbereiche auszuloten und zur Sprache zu bringen.
Dass hierfür die Lyrik prädestiniert ist, stellte die Kirchheimer Autorin Lilli Gebhard unter Beweis, die auf Einladung des Kirchheimer Literaturbeirats ihren Gedichtband „Wie Schatten werden“ vorstellte. Auf den Spuren ihrer eigenen Familiengeschichte befasste sich Gebhard in ihrer Dissertation mit der Geschichte der Russlanddeutschen. Sie wertete Zeitzeugenberichte aus, die von Deportation, Vertreibung und Diskriminierung handelten. Das geschah in betonter Sachlichkeit, die bei Gebhard die Frage nach der emotionalen Ebene wachrief, den Fokus auf Trauma und Verdrängung lenkte. Aspekte, denen sie in ihren Gedichten nicht nur thematischen Raum gibt. Die ästhetische Reflexion von Trauer und Verlust, der Versuch, das Ungesagte und Unsagbare in eine sprachliche Darstellung zu heben, verleiht dem Verdrängten Würde, bringt den traumatischen Kern ans Licht und macht Beschwiegenes benennbar.
Aber der Abgrund muss nicht das letzte Wort haben, scheinen doch die historischen Verwerfungen nicht bodenlos: „Wenn du hineinsiehst / In die Schluchten und Spalten / Die Zwischenräume / Den Augen Zeit gibst / Sich zu gewöhnen / Scheint es irgendwann / vom Grund dir entgegen“. Im Gespräch mit Stadtarchivar Frank Bauer, der die Lesung moderierend begleitete, erwähnte die Autorin, dass sie bei Märchen nicht auf das Ende, sondern deren Anfang achte. Dort sehe sie Einschreibungen von Traumaerfahrungen in unser kollektives Gedächtnis. Das durch „Hänsel und Gretel“ vertraute Motiv des Nicht-Versorgens und Wegschickens von Kindern arbeitete Bauer als wiederkehrendes Phänomen der europäischen Geschichte heraus. Den Gedichtzyklus beenden hoffnungsvolle Bilder eines völkerumspannenden Festes: „Vielleicht brauchen wir unsere Geschichten / Um uns an den Tisch zu setzen / Und es wagen / Die Speisen der Anderen zu kosten“. So kann Literatur helfen, den namenlosen Opfern eine Stimme zu geben. Florian Stegmaier