Kirchheim
Gipfel mit Einblick

Austausch Beim viertägigen Treffen der Kreise Esslingen, Leipzig und München in Sachsen steht der Strukturwandel im Vordergrund. Im ehemals größten Braunkohlerevier der Welt tickt die Uhr. Von Bernd Köble

Zur Endzeit-Stimmung passt hier auch die Optik. Die graubraune Mondlandschaft, in der Förderbänder bergwärts rasen und gewaltige Schaufeldradbagger sich durchs Gelände fressen. Im Tagebau „Schleenhain“ fördert die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft (Mibrag), die heute vollständig in tschechischer Hand ist, jährlich bis zu elf Millionen Tonnen Braunkohle, die im nahegelegenen Kraftwerk Lippendorf in Strom und Fernwärme umgewandelt werden. Der Meiler mit seinen weithin sichtbaren Schloten wird zur Hälfte von der  EnBW betrieben und soll spätestens 2038 vom Netz gehen. Die Zukunft liegt gleich nebenan: Auf 500 Hektar renaturierter Fläche entsteht einer der größten privaten Solarparks Europas. Der Energiepark Witznitz, wo vor Kurzem Spatenstich war, soll rund 200  000 Haushalte mit grünem Strom versorgen und nebenbei als Freizeitrevier dienen.

Der Strukturwandel im mitteldeutschen Revier bei Leipzig ist in vollem Gange. Er war beherrschendes Thema beim Dreiergipfel von Delegationen aus den Kreisen Leipzig, Esslingen und München, zu dem sich die Verwaltungsspitzen und Mitglieder der Fraktionen im Kreistag bei einem
 

„Es geht auch darum, zu erkennen, wovon man besser die Finger lässt.
Heinz Eininger
Esslingens Landrat über „Gipfelziele.“
 

viertägigen Programm zusammengefunden haben. Voneinander lernen, aber auch erkennen,  „wovon man besser die Finger lässt“,  so definiert der Esslinger Landrat Heinz Eininger das Gipfelziel.  Schließlich könnten die Grundlagen,  auf denen Kommunalpolitik betrieben wird, unterschiedlicher kaum sein. Was den einen der Kohleausstieg, ist den anderen der Transformationsprozess in der Automobil- und Zuliefererindustrie.

 Der Kreis Leipzig  fasst  annähernd das  Dreifache  an ­Fläche des Partners aus  Esslingen. Gleichzeitig  leben hier weniger als die Hälfte der Menschen zwischen Alb und Neckar. Das spiegelt sich in vielen Bereichen in der Kommunalpolitik wider. Sei es bei der Bewältigung von Flüchtlingskrisen, wo anders als im „Flächenzwerg“ vor den Toren Stuttgarts mit seinen horrenden Mieten Wohnraumknappheit kaum eine Rolle spielt. Mehr als 2 500 Geflüchtete aus der Ukraine hat der Kreis Leipzig seit Februar aufgenommen. Borna, heute Hauptsitz der Kreisverwaltung,  ist Partnerstadt von Kiew. „Was wir hier erleben,  ist eine gewaltige Welle der Hilfsbereitschaft, auf die wir stolz sind“,  sagt der CDU-Landrat Henry Graichen. Dass der Leipziger Kreischef politisch fest im Sattel sitzt, liegt weniger an der einstigen Reiterkaserne der Reichswehr, in der das Landratsamt in Borna residiert, als an der Nähe zum Wähler. Vor zwei Wochen erst wurde der 45-J ährige mit großer Mehrheit per Direktwahl für weitere sieben Jahre im Amt bestätigt. Volksnähe, flache Hierarchien – in der Kreisverwaltung im Freistaat, wo sich in der Leipziger Tieflandbucht eine kleine Teilgemeinde an die andere reiht, ist das allenthalben spürbar.

Grimma trotzt heute den Fluten

Auch in Grimma, wo sich an diesem heißen Sommertag die Mulde im flachen Bett friedlich an der historischen Stadtmauer vorbeischlängelt. Doch: „Die Mulde kann auch anders“,  sagt Grimmas Oberbürgermeister Matthias Berger. Der empfängt die Gäs­te in Jeans und T-Shirt so locker, wie es dem Umgangston auf den gepflasterten Straßen der Altstadt entspricht, wo man ihn im Vorbeigehen mit Vornamen grüßt. Der 54-Jährige, der bereits seit 21 Jahren an der Verwaltungsspitze steht,  hat sich in der dunkelsten Stunde der Stadt als Krisenmanager einen Namen gemacht. Beim bisher schlimmsten Hochwasser 2002, als die Altstadt unter meterhohen Schlamm- und Wassermassen begraben wurde, hielt das Stadtoberhaupt den Laden zusammen und ging entschlossen voran. Die Schadensbilanz damals: 250 Millionen Euro. Heute schützt eine Barriere, die zu 80 Prozent fast unsichtbar in die historische Bausubstanz integriert ist, auf einer Länge von 2,2 Kilometern die Stadt vor Hochwasser. Ein riesiges Schwenktor aus Stahl blockiert im Ernstfall den Zugang, der in umgekehrter Richtung hinunter zum Ufer führt, wo die Muldenschifffahrt als heutiger Touristenmagnet eine Anlegestelle hat. Den Schutzwall eingeweiht hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ihm hat die Katastrophe in Ostdeutschland bei der Wahl 2002 politisch nur knapp den Kopf gerettet. Berger wurde sechs Jahre später mit 98,2 Prozent der Wählerstimmen zum Oberbürgermeis­ter der Stadt mit 28 500 Einwohnern gewählt.

Auch an anderer Stelle werden regionale Unterschiede sichtbar, die sich vor allem im Flächenvorteil widerspiegeln. Vom 190 Meter hohen Gipfel des „Mount Cröbern“ hat man den besten Blick übers Leipziger Neuseenland, wo aufgelassene Tagebaustätten eine künstliche Seenlandschaft geformt haben. Die Spitze der Mülldeponie ist die höchste Erhebung im flachen Umland und gleichzeitig die größte ihrer Art im Freistaat Sachsen. Anders als im Kreis Esslingen, wo Siedlungsabfälle seit 2005 komplett verbrannt werden, wird hier weiter verfüllt, landen jährlich 300 000 Tonnen Müll zur Vorsortierung in der größten Anlieferungshalle Deutschlands. Bis 2035 reichen die Kapazitäten. Was danach passiert? Noch ungewiss. Im Moment läuft der Probebetrieb für eine Biomüll-Vergärungsanlage, für die der kommunale Zweckverband 25 Millionen Euro investiert. Das Kompostwerk in Kirchheim ist bereits seit 1994 in Betrieb. 

Auch in Sachen Klimaschutz herrscht Nachholbedarf beim Partner aus dem Osten. Ein Klimaschutzkonzept,  wie es der Kreis Esslingen vor fünf Jahren in Auftrag gegeben hat und an dem inzwischen 34 Kreiskommunen beteiligt sind, ist hier erst am Entstehen. Pläne gibt es genug, etwa für ein flächendeckendes solares Nahwärmenetz in Borna. „Allerdings“, sagt Klimaschutzmanager Falko Haak, „wir stehen noch ganz am Anfang.“ 

 

Dreier-Runde seit mehr als zwei Jahrzehnten

Der Dreiergipfel der Partner-Landkreise Esslingen, München und Leipzig findet seit 2001 in festem Turnus und mit wechselndem Gastgeber statt. Wegen der Corona-Pandemie musste der alle zwei Jahre erfolgte Austausch auf kommunalpolitischer Ebene zuletzt pausieren.
Die Verständigung der einzelnen Landkreise untereinander reicht hingegen deutlich länger zurück. Mit dem Landkreis München bis ins Jahr 1977. Damals verband beide Partner die Lärmdebatte im Zusammenhang mit dem Ausbau der beiden Flughäfen in Echterdingen und Riem.
Auch die Kontakte mit Sachsen reichen zurück bis ins vorige Jahrtausend, erstmals geknüpft mit dem Kreis Leipziger Land unter der Regie des damaligen Esslinger Landrats Dr. Hans Peter Braun. Der heutige Kreis Leipzig besteht seit 2008 und ist das Ergebnis von drei Kommunalreformen. Dazu gehören die bis 1994 eigenständigen Landkreise Borna, wo heute der Verwaltungssitz ist, und Muldentalkreis mit der Großen Kreisstadt Grimma. bk