Hölderlins Gedichte mit Musik zu unterlegen, ist ein kühnes Experiment. Timo Brunke und Band haben es gewagt. Nachdem die Truppe Hölderlins 250. Geburtstag am 22. März 2020 mit einer Produktion feiern wollte, dann aber von Corona ausgebremst wurde, war es nun so weit. Auf Einladung des Kulturrings traten sie nun in der Kirchheimer Stadthalle auf.
Hölderlin lädt zum Experimentieren ein. Er passt in keine Schublade. In keine literarische Epoche ist er einzuordnen. Er verwendet bei seinen Gedichten strenge griechische Formen und dann wieder völlig freie. Er studiert evangelische Theologie, lehnt aber jeden Jenseitsglauben ab. Das Göttliche erscheint ihm im Diesseits. Hölderlin wird kaum gelesen, laut Brunke im Ausland aber als der wichtigste deutsche Dichter angesehen. Also ran an den rätselhaften Poeten. Brunke führt das Publikum an die Texte heran: zuerst „Schwabens Mägdelein“, dann „Der Nekar“. Letzterer ist in einer antiken Odenform verfasst. Warum greift Hölderlin auf eine solche strenge Form zurück, zumal bei einem Naturgedicht? Er litt an seiner Zeit, unter der Entfremdung des Menschen vom Göttlichen. Seiner Empfindung nach gab es bei den Griechen eine Epoche „vollendeter Menschennatur“. Er weiß, dass die Zeit vergangen ist, doch er hofft, wie seine Romanfigur Hyperion, „auf jenen Moment, wo erneut Menschheit und Natur sich vereinigen wird in einer allumfassenden Gottheit“. Nur Dichter können eine solche Hoffnung hegen und verkünden. Um dieser Hoffnung eine äußere Form zu geben, wählt Hölderlin immer wieder die Form griechischer Oden und Hymnen. Hölderlin ist es gelungen, die Ausstrahlung strenger antiker Versformen in die deutsche Sprache zu übertragen, obwohl sie von Akzenten geprägt ist.
In „Der Neckar“ verkörpert der Fluss in seiner eigentümlichen Schönheit etwas Geistiges, Göttliches. Deshalb der hymnische Stil, auf den sich der Rezitator Timo Brunke voll einlässt. Er ist ganz der Seher, der leidenschaftlich etwas zu verkünden hat, und setzt dabei sein ganzes professionelles Können als Sprach- und Sprechkünstler ein. Dazu passt eine selbstverständlich wirkende Textsicherheit auch bei schwierigen und umfangreichen Passagen.
Nach der Pause gab es eine besondere Überraschung: Gerhard Landauer, der laut Brunke „aus dem Kirchheimer Kulturleben nicht wegzudenken ist“, rezitierte als Gast das Gedicht „An Landauer“. Die Namensgleichheit ist kein Zufall. Der Landauer von 1800 und der jetzige haben einen gemeinsamen Vorfahren aus dem 17. Jahrhundert. In dem Reimgedicht preist Hölderlin seinen Mäzen Christian Landauer, einen liberalen Unternehmer, der ihm den Raum für seine produktivste Lebensphase zur Verfügung stellte.
Das Programm steigert sich dann mit den bekanntesten Gedichten zum Finale hin: „Hälfte des Lebens“, bei dem das lyrische Ich in seiner Verzweiflung ohne Trost bleibt, zeigt, dass bei dem Poeten die Hoffnung auf eine neue göttliche Zeit schwindet. In seiner Form ist das Gedicht aber zukunftsträchtig: reimlos, mit freien Rhythmen und eine in die Chiffrierung, also in eine Privatsprache kippende Bildlichkeit. Sie ist damit wegweisend geworden für die Lyrik der Moderne. Mit diesem Gedicht ist Hölderlin ein Werk für die Ewigkeit gelungen, das er sich in der Ode „An die Parzen“ ersehnt.
Doch wie erging es dem Experiment? Die Band war durchgehend präsent, bei Einstimmungen, Zwischenspielen und Textgrundierungen. Für jedes Gedicht wurden passende Titel ausgesucht oder selbst produziert. Zwar wurde die Musik bei Rezitationsteilen in der Lautstärke zurückgenommen, vor allem bei der langen Ode „Der Neckar“ verschwand der Text aber teilweise in der Musik. Nach der Pause empfand man die Abstimmung besser. Es wurde endgültig spürbar, dass die Texte musikalisch sind und von einem musikalischen Autor stammen. Dass das Experiment gelang, bewies vor allem der begeisterte Beifall des erfreulich zahlreichen Publikums.
Als Ausklang waren noch drei „Turmgedichte“ zu hören. Hölderlin lebte nach seinem Zusammenbruch noch 37 Jahre im heutigen Tübinger Hölderlinturm beim Schreinermeister Zimmer. Zum Schluss holte Brunke den Dichter vom Sockel herunter und spielte in bester Poetry-Slam-Manier mit dessen Namen.