Kirchheim
Hausärzte im Kreis können aufatmen

Kurswechsel Sich am Telefon krank zu melden, soll weiterhin möglich sein. Experten räumen Fehler ein und bewahren Patienten und Mediziner vor Schlimmerem. Von Bernd Köble

Besser spät als gar nicht. Dass der Gemeinsame Bundesausschuss aus Krankenkassen, Ärzteschaft und Krankenhäusern gestern Nachmittag in Berlin zurückgerudert und seine Entscheidung über ein Ende der telefonischen Krankmeldung nach einem Tag bereits wieder revidiert hat, wird bei Hausärzten im Landkreis mit Erleichterung aufgenommen. Seit 27. März können sich Arbeitnehmer mit leichten Atemwegs­erkrankungen eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen lassen, ohne persönlich in einer Arztpraxis zu erscheinen. Damit sollte die Ansteckungsgefahr in Praxen verringert werden, und damit war am Montagfrüh Schluss. Bereits am Nachmittag dann die Kehrtwende: Die Regelung wird bis 4. Mai verlängert.

Was es heißt, wenn Patienten mit Erkältungssymptomen plötzlich wieder vor der Tür stehen, hat Rainer Graneis gestern am eigenen Leib erfahren. Seine Praxis in Nellingen war schon am Morgen brechend voll, mögliche Corona-Infizierte von Risikopatienten zu trennen, organisatorisch kaum möglich. „Eine Katastrophe“, urteilt der Vorsitzende der Kreisärzteschaft Esslingen und wird noch deutlicher: „Diese Entscheidung war absolut schwachsinnig und hätte uns um Wochen zurückgeworfen.“

Sein Weilheimer Kollege Wolf-Peter Miehe, der die Ärzteschaft im Altkreis Nürtingen vertritt, bläst ins selbe Horn. Er hat den Vorteil, dass er eine von fünf Corona-Schwerpunktpraxen im Kreis als Gemeinschaftspraxis betreibt. Verdachtsfälle und Regelpatienten sind hier ohnehin streng voneinander getrennt. Weil die Zahl der Neuinfektionen seit Tagen sinkt, waren er und seine Kollegin gestern in der Lage, Kapazitäten umzuschichten, wie er sagt. Dass die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung am Freitag für beendet erklärt wurde, hält auch er für einen schweren Fehler. „Wir sind alle davon ausgegangen, dass die Frist umgehend verlängert wird“, sagt Miehe, dessen Mail-Postfach am Freitag überquoll mit Kommentaren empörter Kollegen. Keine Praxis sei am Montag darauf vorbereitet gewesen, sagt der Mediziner, der weiß, dass es weiterhin verbreitet an Schutzausrüstung fehlt.

Weiter Druck von Hausärzten zu nehmen, hält Miehe auch aus anderem Grund für geboten: Die Zahl chronisch Kranker, die aus Angst vor einer Ansteckung nicht zum Arzt gehen, ist unverändert hoch, wie eine Vielzahl verschleppter Herzinfarkte über Ostern zeige. „Wir reden hier von einer flächendeckenden Unterversorgung“, sagt der Weilheimer Arzt, der nun erleichtert ist, dass die Expertenrunde gestern zurückgerudert ist. Auch, wenn er sagt: „Das Ganze ist verheerend, weil es ein Glaubwürdigkeitsproblem darstellt.“

Wer also ist schuld? Die Politik zunächst nicht, und darüber war man in Berlin gestern froh: „Dass die Kuh vom Eis ist, ohne, dass die Politik eingreifen musste, ist positiv“, meint der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich, der Mitglied ist im Gesundheitsausschuss. Er hatte sich für eine einwöchige Kompromisslösung ausgesprochen. „Wir stecken in einem permantenen Veränderungsprozess“, stellt der Gesundheitspolitiker aus Kirchheim fest. „Hier gibt es kein Richtig oder Falsch“, sagt er. „Nur vertretbar oder nicht vertretbar.“ Die Regelung zu verlängern, damit Ärzte sich auf das Notwendige konzentrieren können, hält auch sein Berliner Kollege Nils Schmid (SPD) aus Nürtingen für richtig. Er glaubt: „Nachdem man jetzt schnell die Kurve gekriegt hat, hält sich der Schaden noch in Grenzen.“

Dass die Entscheidung, die Regelung zu kippen, auf massiven Druck der Arbeitgeber in der Industrie erfolgte, ist offenkundig. Vor allem in Unternehmen mit Kurzarbeit ohne Zuschlag stieg die Zahl der Krankmeldungen. Wie stark, dazu gibt es keine Zahlen, weil die Statistik am Quartalsende, also erst im Juni, ausgewertet wird. Im Bundesausschuss konnten sich die Krankenkassenvertreter vergangene Woche gegen die Ärzteschaft durchsetzen. Die gest­rige Kehrtwende erklärt der Ausschussvorsitzende Josef Hecken mit „unterschiedlichen Einschätzungen der Gefährdungslage wegen fehlender Schutzausrüstung“.