Kirchheim
Holocaust: Auch die Überlebenden sind Opfer

Stolpersteine Ein Angehöriger der Familie Vollweiler aus Kirchheim kämpft um das Andenken an seine sechs Verwandten, denen rechtzeitig die Flucht in die USA und nach Argentinien gelungen war. Von Andreas Volz

Roberto Frankenthal hat klare Ziele: Es geht ihm darum, das Andenken an seine Familie  gewahrt zu wissen. In Kassel und Landau sind auf seine Initiative hin Stolpersteine verlegt worden, die an seine Eltern erinnern. Weil seine Stiefmutter Ruth Vollweiler ursprünglich aus Kirchheim stammte, hat er sich
 

Will die Stadt nicht, kann sie nicht, oder soll sie nicht?
Roberto Frankenthal
fragt sich, wie das „Hinhalten“ durch die Stadt Kirchheim zu verstehen ist

vor drei Jahren auch an die Stadt Kirchheim gewandt. Er wollte wissen, ob es die Möglichkeit gibt, durch Stolpersteine an die sechs Mitglieder der Familie Vollweiler zu erinnern, die während der NS-Diktatur ihre Heimatstadt verlassen mussten, um sich in den USA beziehungsweise in Argentinien ein komplett neues Leben aufzubauen.

Auf seine Anfrage hat er bis heute keinen positiven Bescheid erhalten. Deshalb war er diese Woche wieder einmal persönlich in Kirchheim. Erstmals war er 1986 zu Besuch: Er hat damals seine Stiefmutter begleitet, bei jenem denkwürdigen Treffen ehemaliger jüdischer Mitbürger in ihrer alten Heimatstadt. Brigitte Kneher, die Erforscherin der jüdischen Geschichte Kirchheims, hatte wesentlichen Anteil an dieser Begegnung. Auf ihre Recherchen sind auch die meisten Standorte zurückzuführen, an denen 2007 und 2008 die bislang 14 Stolpersteine in Kirchheim verlegt worden waren.

Stolpersteine im Straßenpflaster erinnern an den letzten frei gewählten Wohnort von Opfern des Nationalsozialismus. Als der Künstler Gunter Demnig vor 30 Jahren die ersten von mittlerweile über 100 000 Steinen verlegt hat, ging es um Opfer, die ihr Leben verloren hatten. Längst gibt es aber auch Steine für zahlreiche Menschen, die ihr Leben durch rechtzeitige Flucht retten konnten. Es geht also nicht mehr darum, das biologische Leben verloren zu haben, um ein „Anrecht“ auf einen Erinnerungsstein zu bekommen. Dasselbe „Anrecht“ steht denjenigen zu, die den wichtigsten Teil ihres „biografischen“ Lebens verloren haben: ihre Heimat und ihr Leben in der alten Heimat.
 

Leben in der Militärdiktatur

Roberto Frankenthal hat in Argentinien seine Kindheit „in einer ziemlich antisemitischen Militärdiktatur“ verbracht. Trotzdem weiß er aus Gesprächen mit Eltern und Großeltern um deren Dankbarkeit gegenüber dem argentinischen Staat, der ihnen nach Flucht und Vertreibung eine neue Heimat bieten konnte. Was er aus den Gesprächen aber auch erfahren hat: „Ihr Platz in der Welt war hier, in Deutschland.“ Trotz aller negativen Erfahrungen ab spätestens 1933 hätten sie sich ein Leben lang als Deutsche gefühlt: „Ich bin in Buenos Aires zweisprachig aufgewachsen, meine Eltern haben mich auf eine deutschsprachige Schule geschickt.“

36 Jahre seines Lebens hat der 59-Jährige mittlerweile in Deutschland verbracht. Er hat in Göppingen und in Stuttgart gelebt. Mit dem Staat Israel dagegen verbindet ihn nichts, obwohl er seine Schwester, die seit Jahrzehnten dort lebt, mehrfach besucht hat: „Ich wohne dort nicht, ich wähle dort nicht und ich zahle dort keine Steuern.“ Eine Verbindung zwischen den aktuellen Ereignissen in Israel und seinem Eintreten für Stolpersteine in Kirchheim sieht er nicht: „Das sind vollkommen unterschiedliche Dinge. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“

Er bezeichnet sich selbst als keinen religiösen Menschen. Vielleicht liegen ihm gerade deswegen die Stolpersteine so am Herzen: „Die Mitglieder der Familie, die früher in Kirchheim gelebt haben, sind heute auf dem Friedhof in Buenos Aires. Für mich ist das Andenken an sie aber sehr viel stärker mit einem Stolperstein in Kirchheim verbunden als mit einem Grabstein in Argentinien.“

Bei der Stadt Kirchheim stößt er zwar nicht direkt auf Widerstand. Indirekt aber fühlt er sich „hingehalten“, wie er jetzt in einem Gespräch mit Oberbürgermeister Pascal Bader und Bürgermeisterin Christine Kullen sagte: „Vor drei Jahren habe ich erstmals Kontakt aufgenommen. Immer wieder wurden mir ganz unterschiedliche Gründe dafür genannt, warum es für die Familie Vollweiler keine Stolpersteine gibt.“ Auch mit der jüngsten Argumentation der Verwaltung kann er nichts anfangen: Demnach hatte die Initiative, die 2007 und 2008 die Verlegung der 14 Stolpersteine ermöglicht hat, keinen Fortbestand. Erst jetzt kam es wieder zu einem Treffen – und zu dem Beschluss, sich vorerst um die Opfer der „Euthanasie“ kümmern zu wollen. In Kirchheim habe es über 40 Fälle gegeben, in denen überwiegend psychisch kranke Menschen 1940 systematisch ermordet wurden.

Er versteht das Anliegen, der „Euthanasie“-Opfer gedenken zu wollen. Was er aber nicht versteht, ist die Folge, dass die Familie Vollweiler deswegen warten muss. Im Rathaus sagte er: „Ich ziehe Ihren guten Willen überhaupt nicht in Zweifel, und ich glaube Ihnen auch, dass es gar nicht so gemeint ist. Aber bei mir kommt es so an, als würden hier Opfergruppen gegeneinander ausgespielt.“ Zur Argumentation der Stadt konstatiert er: „Sie ist dünner als das Blatt Papier, auf dem sie steht.“ Wenn er drei Jahre lang hingehalten worden ist, frage er sich: „Was steckt dahinter – will die Stadt nicht, kann sie nicht, oder soll sie nicht?“

Fast am Ende des Gesprächs stellt Roberto Frankenthal nahezu resigniert fest: „Ich sehe, Sie haben Ihre Grundsätze, auch wenn ich sie nicht nachvollziehen kann. Da scheint nichts mehr möglich zu sein. Dann ist das Thema für mich vorerst fertig. Ich werde das entsprechend an die Verwandtschaft in Argentinien weitergeben.“
 

Umgang mit sensiblem Thema

An dieser Stelle bringt sich Oberbürgermeister Bader mit einem Kompromissvorschlag ins Gespräch ein: „Wenn alle Fakten vorliegen über die Geschichte der Familie Vollweiler in Kirchheim, dann kann sich die Stolperstein-Initiative aus meiner Sicht noch einmal mit dem Thema befassen.“ Gerne komme man dabei auch auf das Angebot Roberto Frankenthals zurück, sich zur Sitzung per Video zuschalten zu lassen. Dafür, dass das Gespräch zwischen dem Antragsteller und der Stadt drei Jahre lang nur stockend verlaufen war, entschuldigt er sich explizit: „Das tut mir außerordentlich leid. Das ist so nicht in Ordnung, und es entspricht eigentlich auch nicht unserer Art, wie wir mit diesem sensiblen Thema umgehen wollen.“

 

Keine falschen Eindrücke entstehen lassen

Kommentar von Andreas Volz
zur Symbolpolitik der Stolpersteine

Symbolpolitik ist oft ein heikles Thema: Vor 16 Jahren war es gut und richtig, die ersten neun Stolpersteine in Kirchheim zu verlegen. Dass weitere Erinnerungssteine folgen sollten, ist bis heute allen Beteiligten klar. Da gibt es keine Uneinigkeit. Die Frage ist aber: Wie soll es konkret weitergehen? Die Initiative, deren Einsatz mehr als zu loben ist, hat sich dafür entschieden, zunächst die unrühmliche Geschichte der „Euthanasie“ in Kirchheim aufzuarbeiten – was mit einem hohen Rechercheaufwand einhergeht. Um aber den Eindruck eines falschen und plakativen Aktionismus zu vermeiden, ist es sicher richtig, diese Recherche gründlich zu betreiben.

Was dagegen nicht richtig ist: die Angehörigen der Familie Vollweiler mit ihrem eigenen Anliegen auf einen Zeitpunkt zu vertrösten, an dem das Thema „Euthanasie“ abgehandelt sein wird. Denn dadurch entsteht ebenfalls ein falscher Eindruck, den es unbedingt zu vermeiden gilt. Es entsteht der Eindruck, den Roberto Frankenthal subjektiv schildert: dass Opfergruppen gegeneinander ausgespielt werden – dass also die Todesopfer wichtiger sein könnten als die Opfer derjenigen, die mit dem Leben davongekommen sind.

Wenn man in Kirchheim so denken würde, wäre das ein fatales Zeichen. Wer wie Kurt Vollweiler – bis 1933 ein gefeierter Fußball-Torhüter in Kirchheim – die Heimat mit zehn Mark in der Tasche verlässt, verlassen muss, um in eine völlig neue und ungewisse Zukunft aufzubrechen, hat ebenfalls sein Leben verloren: sein altes Leben. Alles geht verloren, damit in der Ferne ein neues Leben beginnen kann – geprägt von einer anderen Sprache und einer anderen Kultur.

Die Angehörigen der Familie Vollweiler haben sich ihr neues Leben auf der anderen Seite des Atlantiks nicht freiwillig ausgesucht: Sie wurden vertrieben. Hätten sie nicht rechtzeitig die Flucht in den Westen gewagt, wären sie deportiert worden und hätten ihr Leben in einem der Vernichtungslager im Osten verloren. Die Familie hat sehr viel dafür getan, um physisch überleben zu können. Dafür hat jedes einzelne Familienmitglied das frühere Leben in Kirchheim komplett geopfert.

Stolpersteine, die symbolisch an dieses Opfer erinnern, wären wichtig für Kirchheim. Die Stadt – ob durch die Verwaltung vertreten oder durch die Stolperstein-Initiative – täte also gut daran, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen: die Geschichte der „Euthanasie“ aufzuarbeiten, ohne deswegen die Familie Vollweiler auf einen fernen Sankt-Nimmerleins-Tag zu vertrösten. Es sollte nicht noch einmal in eine weite Ferne gehen.