Kirchheim
Hundert Seiten Miteinander

Migration Die Esslinger Kreisverwaltung stellt ihren Integrationsplan erstmals denen vor, die ihn umsetzen sollen. In der Praxis werden gute Beispiele, aber auch Defizite sichtbar. Von Bernd Köble

Er verfolgt ein ehrgeiziges Ziel, und er ist längst überfällig. Nach dem Segen des Kreistags im November hat der Landkreis seinen Integrationsplan nun erstmals denjenigen vorgestellt, die ihn umsetzen sollen. Sozialarbeiter, Lehrer, Arbeitsvermittler, Ehrenamtliche sowie Vertreter von Wirtschaft und Kommunen tauschten sich am Dienstag im Esslinger Landratsamt über die zahlreichen Aufgabenfelder aus, die das Planwerk vorsieht. Wohnen, Sprache, Bildung, Arbeit. Es geht um Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe, unabhängig von Herkunft und sozialem Hintergrund. Dabei sollen nicht nur die etwa 10 000 Menschen im Fokus stehen, die seit 2014 auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung im Kreis gestrandet sind, sondern auch jene, die seit Jahrzehnten hier leben und längst sesshaft sind.

Und: Es geht auch um die, von denen zur Stunde keiner weiß, ob und wie lange sie im Land werden bleiben dürfen. Solange Menschen geduldet sind, brauchen sie Hilfe und Unterstützung. „Als Zivilgesellschaft müssen wir diese Defizite überbrücken“, warb Landrat Heinz Eininger in seiner Begrüßungsrede um Toleranz. Ansonsten riskiere man, dass Perspektivlosigkeit zu Krankheit, Frust, Gewalt und Kriminalität führten. Wo die Dip­lomatie auf höchster Ebene versagt und Gerichte überfordert sind, bleibt Landkreisen und Kommunen keine andere Wahl, als zu handeln. Weil sie die „Drehscheibe“ sind, „auf der Integration passiert“, nannte Sozialdezernentin Katharina Kiewel den Grund. „Wir schaffen damit kein Sonderkonzept für Geflüchtete“, stellte sie klar. „Es gehe um alle Menschen, die benachteiligt und schwer erreichbar seien

Trotzdem sind es die alarmierenden Zuwanderungszahlen in den vergangenen Jahren, die Auslöser für eine Vielzahl neuer Hilfen und Strukturen waren, die im sogenannten „Netzwerk Flüchtlinge“ unter der Regie des Landratsamtes entstanden sind. Soziale Dienste, Schulen, Rathäuser, Wirtschaftsverbände und Jobcenter arbeiten dort Hand in Hand. Jetzt geht es darum, Angebote zu vertiefen und zu verstetigen und dabei neue Mitspieler und Ideen ins Boot zu holen. Eine Chance, die sich bietet, weil sich die Zuwanderungszahlen seit vergangenem Jahr auf niedrigem Niveau eingependelt haben und ein Stück Normalität zurückgekehrt ist in die Amtsstuben. 580 000 Euro investiert der Kreis in erste Schritte: Schulungen für Mitarbeiter, intensivere Sprachförderung und verbesserte Hilfen auf dem Weg zu einer Ausbildung.

Den hundert Seiten starken Integrationsplan, der bis 2020 reicht, will die Kreisverwaltung als reine Handlungsempfehlung verstanden wissen, die sich Kommunen und Einrichtungen zunutze machen können. Wohl wissend, dass das Handeln Grenzen hat - bei den Themen Wohnen und Bildung hat der Kreis wenig bis keinen eigenen Handlungsspielraum - und wohl wissend, dass 2020 nicht Schluss sein wird. „Integration ist nicht in zwei Jahren zu bewältigen“, unterstrich Esslingens Landrat, der darin eine Daueraufgabe sieht.

Tauschen sich Praxis-Teams untereinander aus, wird rasch deutlich, woran es am meisten krankt: Es fehlt an Beratungspersonal in den Unterkünften, an geeignetem Wohnraum für unbegleitete Minderjährige, an Lotsen, die Orientierung bieten sollen beim Übergang von der Schule in den Beruf und manchmal an so einfachen Dingen wie einer verständlichen Sprache auf Fragebögen und in Antragsformularen. Auch die medizinische Versorgung birgt Konflikte. Es mangelt am Grundverständnis für das deutsche Gesundheitssystem, aber auch an dringend benötigten Angeboten. Verbesserungen versprechen neuen Konzeptionen für Trauma-Patienten und für Suchtkranke. An beidem wird derzeit gearbeitet, wie Michael Köber, zuständig für Behindertenhilfe und Psychiatrieplanung im Kreis, betont.

Helfen, die Welt zu verstehen

Es gibt aber auch Beispiele, die zeigen, was Integration im Kern bedeutet: Dem Fremden zu helfen, die Welt, in der er lebt, zu verstehen. In Ostfildern hat man dafür aus einem schwäbischen Kulturgut augenzwinkernd ein Hilfspaket geschnürt. Aus der Kehrwoche wurden die „Care-Wochen“. Jeden Mittwoch zur selben Zeit am selben Ort treffen sich Bewohner und Neubürger, um sich über örtliche Gepflogenheiten und Alltagsthemen auszutauschen. Den Besuch beim Arzt, die Rolle der Polizei oder eben die Kehrwoche. Immer dabei: ein Dolmetscher. Jeder Teilnehmer erhält am Ende ein Zertifikat. Daraus entstanden ist ein fünfköpfiges Team aus Migranten, das jetzt die Sozialen Dienste bei ihrer Arbeit unterstützt. Als Integrationslotsen.