Die Janusz-Korczak-Schule in Kirchheim ist ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. „Schule für Verhaltensgestörte“ hätte man früher gesagt. Die Kinder, die aus Regelschulen hierherkommen, tragen oft den Stempel „Chaot“ oder „Störer“. Manche beginnen direkt in Klasse eins, weil die Eltern ihnen den Start an einer Regelschule nicht zutrauen.
Dr. Werner Baur hat diese Schule aufgebaut und – mit Unterbrechungen – 28 Jahre lang geleitet. Kinder abzustempeln liegt dem Sonderpädagogen fern. Wer ihn mit seinen Schülern erlebt, spürt große Zuneigung, ehrliches Interesse und Respekt. „Ich würde nie ein Kind als verhaltensgestört bezeichnen“, sagt er. Baur und seine Kolleginnen und Kollegen schauen hinter das Verhalten, wollen herausfinden, warum die Kinder tun, was sie tun. Bei 40 bis 60 Prozent gibt es einen medizinischen Grund: Sie haben ADS, ADHS oder Autismus. Andere sind einfach so auffällig, „teilweise auch als gesunde Reaktion auf ihre Lebensverhältnisse“, sagt Werner Baur.
Viele Kinder, die hier zur Schule gehen, hätten schwierige Erfahrungen gemacht, entweder im Elternhaus oder in vorherigen Schulen. Einige leben in den Erziehungshilfe-Einrichtungen der Stiftung Tragwerk, früher Heime genannt. Andere bekommen zu Hause ambulant Unterstützung. „Unsere Kinder zeichnet aus, dass sie Bindungen nicht oder nicht ausreichend hatten“, erklärt Baur. Deshalb springen die Lehrer in dieser Lücke – eine enorme Verantwortung. Baur ist es wichtig, zu betonen, dass seine Schule niemanden rausschmeißt. „Wir halten an allen fest“, sagt er.
Wie ist es, permanent mit Kindern zu arbeiten, die einen oft beinahe zur Verzweiflung bringen? „Wenn ich weiß, wozu ein Verhalten subjektiv gut ist, dann macht mir das schräge Verhalten keine Angst mehr“, sagt Werner Baur und nennt ein Beispiel: „Wenn einer sagt ‚Baur, du Arschloch!‘, dann will er mich nicht herabsetzen. Er hat nur keine andere Möglichkeit, mir zu sagen, wie wütend er ist.“ In der Regel lasse er den Schüler erst mal in Ruhe und frage einen Tag später, wenn der sich wieder abgekühlt habe, was denn los war. „Dann kann man gemeinsam überlegen, wie es beim nächsten Mal besser gehen kann.“
Was die Janusz-Korczak-Schule von Regelschulen unterscheidet: Hier gibt es die Ressourcen, genau hinzuschauen und jedem Kind ein passgenaues Angebot zu unterbreiten. Wenn ein Schüler schnell reizüberflutet ist, wird er beispielsweise in einer kleinen Gruppe unterrichtet. Andere Kinder, die besser mit großen Gruppen zurechtkommen, besuchen eine der 13 Inklusionsklassen, unterstützt von qualifizierten Schulbegleitern. Für notorische Schulschwänzer gibt es die Straßeneckenschule in Plochingen, ein ganz offenes Angebot, das wieder Lust machen soll aufs Lernen. In den Nautilus-Klassen werden Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung unterrichtet. Und die Mädchenklasse trägt der Tatsache Rechnung, dass die allermeisten Schüler Jungs sind und die Mädchen in normalen Klassen oft ziemlich allein wären.
Dass heute dieses breite Angebot existiert, zu dem auch noch die Sonderberufsfachschule, der Sonderpädagogische Dienst und die Beratungsstelle für sonderpädagogische Frühförderung gehören, ist Baurs Verdienst, der sich als Schulleiter stets darum bemüht hat, neue Angebote dort zu schaffen, wo sie benötigt werden.
Allerdings stößt die Janusz-Korczak-Schule allmählich an Grenzen. Die Anmeldezahlen steigen immer weiter an. „In 25 von 28 Jahren hatten wir immer eine erste Klasse, vielleicht mal zwei“, sagt Baur. „Nächstes Jahr haben wir zweieinhalb.“ Er schiebt das auf die Corona-Zeit, die dazu geführt habe, dass nicht alle Kinder eine Kita besuchen konnten und nun entsprechende Defizite hätten. Ein weiterer Grund dafür, dass es immer mehr Kinder mit Problemen im sozial-emotionalen Bereich gibt, ist für Baur die allgegenwärtige Präsenz von Smartphones, sowohl in Kinder- als auch in Elternhänden. „Wenn die ganze Zeit ein Smartphone zwischen den Eltern und dem Kind ist, dann schadet das der Beziehung. Kleine Kinder wollen gesehen werden“, sagt Baur.
Auch die Anfragen aus Regelschulen nach Beratung werden immer mehr. Die Schule bräuchte dafür dringend zusätzliches Personal. Aufstockungsanträge blieben aber bisher ohne Erfolg.
Als große Herausforderung für seine Nachfolgerin Heidrun Munker sieht Werner Baur auch das Thema Ganztagsbetreuung. 2026 kommt der Rechtsanspruch, der auch die Janusz-Korczak-Schule mit einschließen wird. „Wie machen wir das mit unseren Schülerinnen und Schülern, die es teilweise nicht in großen Gruppen aushalten?“, fragt Werner Baur. Eine Antwort hat er noch nicht.
Was nun, Herr Baur?
Vor 28 Jahren hat Professor Dr. Werner Baur die Leitung der Janusz-Korczak-Schule übernommen. Jetzt geht er in den Ruhestand. Baur hat Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen und Diplom-Pädagogik an der Uni Tübingen studiert und dort über „Die Langzeitwirkungen der Heimerziehung“ promoviert. Er hatte neben seinem Job als Schulleiter eine Professur an der PH Ludwigsburg.
Eine offizielle Verabschiedung gibt es nicht, Baur verzichtet ganz bewusst darauf. Ihm sei es wichtiger gewesen, sich von den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften zu verabschieden, sagt er.
Wie es weitergeht, weiß Baur noch nicht. Nahtlos weiterarbeiten will er nicht, obwohl Angebote der PH Ludwigsburg, der Stiftung Tragwerk und des Kreisjugendrings vorliegen. „Ich habe mir ein Bett auf Rädern gekauft, mit dem ich ein bisschen durch die Gegend fahren werde“, sagt er. „Und dann denke ich, dass bald der Zustand kommt, in dem es mir langweilig wird. Diese Langeweile müsse er ertragen, „denn wenn man die Langeweile ertragen kann, kommt die Muße“. Auf diesem Wege will Baur herausfinden, was er im Ruhestand wirklich tun möchte. adö

