Passender könnte die Adresse nicht sein: Seit 2008 findet man die handgefertigten Leinen-Kreationen der Kirchheimer Modemacherin in der Flachsstraße 3. 1995 machte sie sich zunächst in den Räumen der früheren Bäckerei Stohrer in der Dreikönigstraße selbstständig. Am Montag, 23. Dezember, öffnet Dagmar Wiebusch ihre Türen ein letztes Mal, bevor sie ihr Geschäft nach fast 30 Jahren schließt und in den Ruhestand geht. Am Samstag zuvor gibt es ab 10 Uhr einen Abschiedsumtrunk mit Freunden, Nachbarn und ihrer Kundschaft. „Die Entscheidung fiel endgültig im Sommer. Das Atelier und die Arbeit darin sind ein Teil von mir, das ist natürlich nicht ganz leicht. Ich bin jetzt aber 68 Jahre alt und freue mich auf einen neuen Lebensabschnitt, auf mehr Unabhängigkeit und Spontanität“, sagt Wiebusch, die ursprünglich Grafik-Design studierte und erst mit fast 40 Jahren ihren eigenen Laden für Leinen-Produkte samt Schneiderei eröffnet hat.
Jedes Stück ist ein Unikat
Mit in die Flachsstraße umgezogen ist 2008 ein altes Holzregal, in dem früher die frischen Brote in der Bäckerei Stohrer auf die Kundschaft warteten. Heute befinden sich darin stapelweise alte Leinenstoffe, denen Dagmar Wiebusch in den vergangenen drei Jahrzehnten auf kreative Art und Weise ein neues Leben eingehaucht hat. Bis zu 150 Jahre oder sogar älter sind die robusten, teils aufwändig bestickten Stoffe, aus denen die Designerin in Handarbeit Kleidung, Taschen, Hüte, Kulturbeutel und weitere Accessoires gefertigt hat. Jedes Stück für sich ein Unikat.
Die alten Stoffe erzählen alle ihre ganz eigene, spannende Geschichte.
Dagmar Wiebusch, Designerin aus Kirchheim
„Die Stoffe sind alte Getreidesäcke, Bettwäsche, Handtücher, Tischdecken, Schürzen oder auch Meterware“, erklärt Wiebusch. Sie alle haben ihre eigene, spannende Geschichte, die sie in den Gesprächen mit den Leuten, die ihr die alten Leinen vorbeibrachten, erfahren hat. „Viele haben sie vererbt bekommen“, erzählt die 68-Jährige.

Auf den alten Getreidesäcken sind in der Regel die Namen der früheren Besitzer und die Jahreszahlen aufgedruckt. Einer gehörte 1893 beispielsweise dem Lehrer August Schwarzkopf. „Durch die Aufdrucke konnte man die Säcke bei der Getreideabgabe zuordnen“, erklärt Dagmar Wiebusch. Manche haben eine zusätzliche Nummer aufgedruckt, „die zeigte, wie viele Säcke der Eigentümer insgesamt besaß, die er mit Korn füllen konnte.“ Einer der Leinensäcke sei ihr Talisman. „Den gebe ich auf keinen Fall her“, fügt sie hinzu und zeigt den des Schneiders Johann Ludwig Bauer aus Ebersbach, auf dem neben der Jahreszahl 1857 zudem eine Schere aufgedruckt ist.

Was bis zur Schließung des Ateliers nicht mehr verkauft wird, nimmt Dagmar Wiebusch erst mal mit nach Hause. „Dort habe ich einen Nähplatz. Ich werde hobbymäßig weiterschneidern und nähen. Ganz aufgeben werde ich das wohl nie“, sagt die 68-Jährige und lacht. In Österreich gebe es einen „Webermarkt“ mit Ausstellern aus ganz Europa. Daran wolle sie gerne mal wieder teilnehmen. Schon als Jugendliche experimentierte Dagmar Wiebusch mit Stoffen und eignete sich das Wissen und die Fertigkeiten nach und nach an. Tipps gab es dabei von der Mutter, die selbst Schneiderin war. „Nach dem Abitur bin ich mit einer Freundin nach Mailand gereist und habe gesehen, wie Schneider aus alten Brokat- und Baumwollstoffen neue Kleider nähten. Das hat mich beeindruckt und inspiriert.“ Heute sei der Nachhaltigkeitsgedanke noch viel mehr in den Fokus gerückt als zu Beginn ihrer Beschäftigung mit den alten Leinenstoffen. Seit 1994 arbeitet sie mit diesen. Das alte Leinen sei im Vergleich zum heutigen langlebiger, da dichter gewebt und knittere weniger: „Die Stoffe waren früher sehr kostbar.“

In den Räume des Ateliers werde ein Nagelstudio eröffnet, weiß Dagmar Wiebusch. Damit verschwindet wieder eines der besonderen alteingesessenen Geschäfte aus dem Kirchheimer Stadtbild.
Stoff mit langer Tradition
Leinen ist ein angenehmes, hautfreundliches, kühlendes und haltbares Naturmaterial, das eine uralte Tradition hat. Schon die Ägypter schätzten es als Grabbeigabe. Auch hierzulande gab es vor dem Einzug der Baumwolle kaum ein anderes Material, das sich so gut zur Herstellung von Bett- und Unterwäsche, Handtüchern und dergleichen eignete.
Die vorindustrielle Fertigung war sehr aufwändig, da die einzelnen Arbeitsgänge von Hand erledigt werden mussten. Im Gegensatz zum neuen Leinen ist das alte Tuch von Hand gewebt, wesentlich dichter und langlebiger. tb