Kirchheim
Im Recaro-Sitz Autofahren und im Dachhimmel einen Film anschauen

Wirtschaft Das autonome Fahren stellt neue Anforderungen an den Kirchheimer Sitzhersteller. „Jetzt kommen Innovationen“, freut sich Geschäftsführer Ulrich Severin. Von Iris Häfner

So viel steht fest: Der Autositz der Zukunft unter­liegt anderen Anforderungen und Bedürfnissen als heute. Dem trägt die Kirchheimer Firma Recaro heute schon Rechnung, wie Andreas Schwarz, Fraktionsvorsitzender der Grünen und hiesiger Landtagsabgeordneter, von Ulrich Severin, Geschäftsführer Recaro Automotive und Vice President Europe, erfährt. Auch Tayfun Tok, Sprecher für Wirtschaftspolitik der Landes-Grünen, besucht den bekannten Sitzhersteller.

In vielen Luxus-Sitzen nehmen die beiden Platz. Dabei erfahren die Politiker viel über die Historie der Firma, die 1906 von Sattlermeister Wilhelm Reutter in Stuttgart gegründet wurde – und zwar als Karosseriebau. Daher der jetzige Markenname Recaro. „Das war ähnlich wie heute beim Wohnmobilbau: Man kauft Fahrgestell mit Führerhaus und Technik und baut darauf die Ausstattung“, erläutert der Geschäftsführer.

Die Vergangenheit ist wichtig, das ist aus jeder seiner Erzählung herauszuhören. Mit Porsche wurde von der ers­ten Stunde an zusammengearbeitet. Irgendwann spezialisierte sich Recaro auf die Sitze und arbeitet seitdem mit namhaften Automobilherstellern zusammen. Unter anderem sind es Mercedes, Audi, Cadillac, Rover, VW und Mazda. Ulrich Severin zitiert Rallyefahrer Walter Röhrl, mit dem es eine lange Zusammenarbeit gibt: „Mit einem Sitz im Fahrzeug wird das Lenkrad wirklich zum Lenk-Rad und nicht zum Halte-Rad.“ 

 

Die Lokführer der Shinkansen in Japan sitzen auf Recaro.
Marketingleiterin Romi Diana Doser über den Einsatz der Kirchheimer Sitze auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke in Fernost

 

An diesem Qualitätsanspruch soll sich auch in Zukunft nichts ändern, die Vorgaben haben es jedoch bereits getan. Die Ergonomie der Fahrzeuge muss beachtet und dementsprechend der Sitz positioniert werden. Der wiederum soll den Rücken korrekt unterstützen. „Im E-Auto nimmt die Batterie einen sehr großen Raum ein. Wir entwickeln daher einen extrem niedrigen Sitz, der wieder Batterieraum zurückgibt – jetzt kommen die Innovationen“, sagt der Geschäftsführer mit unverhohlener Begeisterung. Komplett neue Sitzgenerationen würden entstehen. Die sind beispielsweise auf die Fahrenden abgestimmt: sportliche oder Bequemlichkeit schätzende Langstrecken-Fahrer. Auch Rückbänke soll es in Eigenproduktion geben.

Seit 2019 genießt die Firma dank eines neuen Eigentümers wieder mehr Freiheiten, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schätzen wissen und nutzen. In naher Zukunft soll die Zahl auf rund 250 steigen. Um die Zukunft ist Ulrich Severin nicht bange, „solange Menschen für Recaro brennen und den Brand wollen“.  Allerdings musste die Firma wegen der Corona-Krise 30 Prozent Einbußen hinnehmen. „Damit kämpfen wir jetzt“, sagt Ulrich Severin. Bis zu 30 000 Autos im Jahr waren es weniger. „Die Automobilkonzerne haben für Tage oder gar Wochen die Werke dichtgemacht. Die Aufträge waren gefertigt, aber wir konnten nicht ausliefern“, blickt der Geschäftsführer zurück. Es gab deshalb Kurzarbeit. 

Im Lauf der Zeit sind die Recaro-Sitze immer mehr konkav geworden, haben sich dem Körper angepasst. „Der Sitz ist ein wichtiges passives Sicherheitselement, der sämtlichen Crashanforderungen ausgesetzt wird. Wenn ein 50-Kilo-Block gegen den Rücken knallt, muss der Sitz das mindestens einmal überstehen. Das ist unser Sicherheitsversprechen“, so Ulrich Severin. Recaro sei nah am Kunden und den Trends –  immer im Einklang mit den Sicherheitsvorschriften. Die ersten ergonomisch-orthopädischen Sitze gab es Ende der 70er-Jahre. „Jetzt gehen die Ideen deutlich weiter. Was passiert beim autonomen Fahren? Lehnt man sich da komfortabel zurück und schaut sich im Dachhimmel einen Film an? Bei einem Crash, der auch da nicht ausbleibt, muss der Sitz den Menschen schnell in die richtige und sichere Position bringen“, blickt der Geschäftsführer in die Zukunft. Dabei müsse aber jedem klar sein, dass dann niemand mehr mit über 200 Sachen über die Autobahn fährt, sondern sich mit 120 Stundenkilometern fortbewegt. Möglich sei auch, dass Körperdaten über Sensoren abgefragt werden, schließlich wird der Sitz bei einem gewichtigen Zwei-Meter-Mann anders beansprucht als bei einer kleinen, zierlichen Frau. Eventuell gibt es auch eine Anbindung an eine App, die einem anzeigt, dass man reif für eine Pause ist.

Und dann fällt ein Satz, der nahezu jeden Sattler zusammenzucken lässt. „Leder ist nicht mehr opportun, vegane Materialien sind gefragt“, sagt Ulrich Severin. Mit veganem Leder werde experimentiert, die Ergebnisse würden aber noch zu wünschen übrig lassen. Zur Zutatenliste für den modernen Autositz gehören Hanf und Recyclingmaterial.