Selbstversuch
Inklusion beginnt in den Köpfen

Die Klasse 1b der Konrad-Widerholt-Grundschule in Kirchheim hat einen Mitschüler, der im Rollstuhl sitzt. Bei einem Projekt haben die Kinder ausprobiert, wie man im Rollstuhl Sport macht. 

Ein paar einleitende Instruktionen von den beiden Parasport-Leitern des MTV Stuttgart, Mandy Pierer (rechts) und Hannes Spranger (Mitte), dann konnte das Ballspiel als Rollstuhl-Mannschaft auch schon losgehen. Foto: Katja Eisenhardt

An diesem Vormittag findet in der Turnhalle der Konrad-Widerholt-Grundschule in Kirchheim ein besonderer Sportunterricht statt. Die 25 Mädels und Jungs der Klasse 1b sitzen alle in einem Rollstuhl und testen, wie es sich damit zum Beispiel gemeinsam Basketball spielen lässt. Das Inklusions-Sportprojekt findet in Kooperation mit Mandy Pierer, der Inklusionsmanagerin und Leiterin der Rollstuhlsportgruppe des MTV Stuttgart sowie Hannes Spranger, dem Leiter der im November neu gegründeten Parasport Akademie des Vereins, statt. 

„Der Anlass dafür war, dass wir mit Julius in der Klasse 1b das erste Inklusionskind an der Grundschule haben“, erklärt Lehrerin Isabelle Dittrich. Der Siebenjährige sitzt aufgrund seiner Querschnittslähmung im Rollstuhl. Er ist etwa von der Hüfte abwärts gelähmt. Das hält den aufgeweckten Jungen allerdings nicht davon ab, sich in zahlreichen Sportarten auszuprobieren, vom Schwimmen über Fußball und Radfahren bis hin zum Skifahren war schon alles dabei. „Beim Skifahren habe ich dann zum Beispiel Sitzskier, fürs Radfahren habe ich ein Handbike“, erklärt der Siebenjährige. Sobald er größer ist, kann er zum Beispiel ein Liegebike nutzen. „Beim Fußball bin ich immer im Tor und halte jeden Ball“, fügt Julius hinzu und lacht. 

In Sachen Barrierefreiheit ist im Alltag und in der Gesellschaft noch Luft nach oben.

Mandy Pierer, Inklusionsmanagerin MTV Stuttgart

Seinen Klassenkameraden hat er zum Auftakt des Sportunterrichts die Basics des Rollstuhlfahrens erklärt: „Wie sie damit vorwärts und rückwärts fahren können und wie man bremst.“ Der Profi zeigt sich zufrieden mit den ersten Fahrversuchen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler: „Das machen sie echt gut!“ Tatsächlich flitzen die Mädels und Jungs schon mit ordentlich Tempo durch die Halle und das mit sichtlich Spaß. 

Inklusion aktiv angehen

Mandy Pierers Sohn Henry (17) sitzt ebenfalls im Rollstuhl. „Er war aber schon immer bewegungsfreudig und sportlich, daher habe ich mit meinem Mann die ,Wheelers‘, die Rollstuhlsportgruppe beim MTV, gegründet, als Henry im Grundschulalter war. Auch Julius ist heute Teil der Gruppe“, erzählt Pierer. Grundsätzlich müsse man das Thema Inklusion noch mehr ins Bewusstsein rufen, und das aktiv und frühzeitig wie mit dem Projekt in der Kirchheimer Grundschule, sagt die Inklusionsmanagerin des MTV Stutt­gart, einem der größten Sportvereine der Landeshauptstadt. „Menschen mit Behinderungen können im Prinzip alle Angebote nutzen, es fehlt aber oft noch an der Barrierefreiheit. Was das angeht, ist in der Gesellschaft und im Alltag sowohl physisch als auch kommunikativ noch viel Luft nach oben“, betont Mandy Pierer. 

Julius (vorne links) sitzt querschnittsgelähmt im Rollstuhl und treibt trotzdem viel Sport. Seinen Klassenkameraden hat er gezeigt, wie. Foto: Katja Eisenhardt

Im Schulalltag wird Julius von seiner Schulbegleiterin Gabi Szlat­ki täglich unterstützt. „Ich hole ihn von zu Hause ab, begleite ihn im Unterricht, auf seinen Wegen von A nach B und helfe, wenn er irgendetwas nicht selbst bewältigen kann. Zum Beispiel, wenn er an etwas nicht rankommt oder wenn die Wege mal zu ­schmal sind“, nennt Julius’ Begleiterin alltägliche Beispiele. „Ich vermittle auch, falls es mal Konflikte mit anderen Kindern geben sollte“, so Szlat­ki.

Schule barrierefrei umgerüstet

Das inklusive Sportprojekt finde sie gut, sagt Gabi Szlatki. „So können es sich die Kinder durch das eigene Ausprobieren besser vorstellen, was es bedeutet, wenn man im Rollstuhl sitzt, und wann und wie man denjenigen oder diejenige vielleicht auch unterstützen kann.“ Gehwege sind zum Beispiel ein alltägliches Hindernis. Die Grundschule sei extra so umgerüstet worden, dass Kinder mit körperlichen Einschränkungen, wie Julius sie hat, am regulären Schulalltag teilhaben können, erklärt Lehrerin Isabelle Dittrich. 

Am Ende des Sportunterrichts schaut man in viele strahlende Gesichter. Luisa und Karla (beide 7) finden: „Das war cool!“ In einem Rollstuhl saßen die Mädels zum ersten Mal und sind begeistert, was damit (sportlich) alles möglich ist. Genau wie der gleichaltrige Mattis, der am liebsten einen eigenen hätte, wie er nach dem Unterricht erklärt. Vor allem, „weil es so Spaß gemacht hat, damit so richtig Gas zu geben“. 

Die Parasport-Akademie des MTV Stuttgart 1843

Der MTV Stuttgart ist 2025 mit seiner europaweit einzigartigen Parasport-Akademie gestartet. Durch eine gezielte Nachwuchsförderung in den Sportarten Leichtathletik, Blindenfußball, Rollstuhlbasketball und Radsport soll talentierten Kindern und Jugendlichen mit motorischen Behinderungen, Kleinwuchs, Sehbehinderungen und Blindheit der Weg in den Spitzensport ermöglicht werden. Mehrere Jahre wurde die Akademie geplant. Hannes Spranger leitet sie gemeinsam mit Mandy Pierer und geht auf Talentsuche.

Das Angebot richtet sich an Kinder und Jugendliche in Stuttgart und weit über die Stadtgrenzen hinaus.

Dabei steht nicht nur der sportliche Erfolg im Mittelpunkt, sondern auch die individuelle Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Die neuen jungen Athleten und Athletinnen werden in die bereits etablierten Parasport-Angebote des MTV integriert. Der Verein hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Thema Inklusion beschäftigt und ein breites Netzwerk aufgebaut.

Kontakt zur Parasport-Akademie bekommt man über deren Leiter Hannes Spranger, per E-Mail an: parasportakademie@mtv-stuttgart.de.

Weitere Infos unter: www.mtv-stuttgart.de/​​​​​​para-sport/parasportakademie   pm