Kirchheim. Die neunte Stunde als mutmaßlicher Todeszeitpunkt Jesu an Karfreitag spielte in der Liturgiegeschichte schon immer eine hervorgehobene Rolle. Nach der langen Renovierungsphase konnte in der Martinskirche an Karfreitag wieder die geschichtsträchtige „Musik zur Todesstunde“ stattfinden.
Wo andernorts Passionsaufführungen erklingen, hat Bezirkskantor Ralf Sach mit seinem Kammerchor ein besonders zu Herzen gehendes Programm zusammengestellt. Eines, dass auf große Instrumentalbesetzung gänzlich verzichtet und den faszinierend stimmschönen Chor auf eine reine Bläserbesetzung treffen ließ. Der einleitende Begräbnisgesang von Johannes Brahms war ursprünglich auch als Freiluftmusik gedacht, an einem Grab zu musizieren. Die bewusst altertümlichen Worte des Textdichters Michael Weisse geben dem „Kleinen Deutschen Requiem“ eine anmutige Färbung, die wie eine Balladenerzählung das Menschenleben als unaufhaltsamen Gang zu seinem Ende beschreibt.
In den ersten Unisono-Takten gaben die Männerstimmen gleich eine Visitenkarte ihrer ausdrucksvollen sängerischen und dramaturgischen Fähigkeiten ab, untermalt von den schicksalshaften Paukenschlägen. Und wie überirdisch schön die Frauenstimmen bei der Beschreibung der in Gottes Hand ruhenden Seelen! Die Entwicklung des Kammerchors, auch durch die Bereicherung vieler neue und junger Stimmen, ist ein beachtlicher Verdienst seines Leiters Ralf Sach. Es wurde bei dieser besonderen Nachmittagsatmosphäre in der Martinskirche nicht nur technisch rein, sondern auch mit großer Leidenschaft und konzentriertem Gestaltungswillen gesungen. Dies wurde ganz besonders bei der äußerst anspruchsvollen Motette „Warum ist das Licht gegeben“ von Johannes Brahms hörbar. Die Auseinandersetzung mit der scheinbaren Ungerechtigkeit darüber, wie der Tod die Menschen trifft, fasste in der engmaschigen Intervallik der düsteren Brahms-Musik die Zuhörenden in der voll besetzten Martinskirche derart an, dass ein kurzer unbeabsichtigter Zwischenapplaus aufbrandete.
Mit Antonin Dvoraks D-Dur Messe kam die intensive Musikstunde zu einem versöhnlichen Ende. Die Instrumentalisten der Stadtkapelle und des Ensemble Lingeno begleiteten den Chor präzise und ausgewogen in jeden Winkel der gestalterischen Ausleuchtung des Werks, und an keiner Stelle wurde die sonst gewohnte Üppigkeit eines symphonischen Orchesters vermisst. Das wechselseitige Zuspielen von Chor und Bläserensemble hatte an manchen Stellen des „Credos“ sogar fast etwas Spontanes, wie improvisiert. Als die Friedensglocke der Martinskirche die sphärisch ausgehauchte innige Bitte um Frieden aufnahm und eine zutiefst eindrückliche Karfreitagsmusik beendete, dankte das Publikum den Akteuren mit langanhaltendem Applaus. Auch das war besonders am diesjährigen Karfreitag.