Kirchheim
Ist der Islam in der Krise?

Religion Noch im 13. Jahrhundert lagen die meisten führenden Bildungsstätten in der islamischen Welt. Heute ist das nicht mehr so. Woran liegt das? Michael Blume hat Antworten. Von Anja Heinig

Was Michael Blume in seinem Vortrag rüberbringen konnte, war ein fulminantes Feuerwerk, das alle in den Bann zog“, sagte Moderator Willi Kamphausen am Ende des Abends im Vortragssaal der Stadtbücherei. Von der Vielzahl der Zuhörer war er selbst überrascht. Über 100 Leute lauschten dem Vortrag des Islamkenners, der vor einigen Jahren im Kirchheimer Gemeinderat ins Bewusstsein gebracht hatte, dass es nicht nur Christen in der Stadt gibt. Unter den Zuhörern waren Christen und Muslime, Anhänger der Gülen-Bewegung und Erdogan-Anhänger sowie Menschen, die einfach nur interessiert waren. Der Vortrag: prägnant, differenziert und schlüssig. Viele Aussagen kamen überraschend.

Blume zeigte, dass entgegen der Empfindungen vieler Menschen die Zahl der gläubigen Muslime, die regelmäßig in die Moschee gehen und beten, stark rückläufig ist. Es findet eine stille Immigration statt. Aus seinem Buch nannte Blume konkrete Zahlen: Rund 15 Prozent erklärten, „ein paar Mal“ im Jahr zu beten, gut 20 Prozent taten das nach eigener Angabe nie. Das sind zwei Prozent der deutschen Bevölkerung. Weiter führte er an, dass die reine Zahl der Muslime nichts über die religiösen Begebenheiten und den Glauben aussagt: In der Türkei und auch in deutschen Statistiken würden automatisch alle Kinder als Muslime gezählt, während man im Christentum seine Religionszugehörigkeit erst mit der Taufe erhalte und jederzeit aus der Kirche austreten könne. Verständlich, dass das für Menschen auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Viele Muslime, die gar nicht mehr religiös seien, erzählen das nicht unbedingt jedem. Die Furcht vor fehlender Akzeptanz in der Familie und im Bekanntenkreis sei häufig zu groß. Die islamischen Autoritäten hätten, so Blume, in den vergangenen Jahrhunderten einige massive Fehlern begangen. So verboten die Religionsführer ab 1485 den Buchdruck arabischer Lettern. Während durch Luther eine Bildung für jeden möglich wurde, sei das islamische Bildungssystem über Jahrhunderte erstarrt. Europa sei durch den Buchdruck umgewälzt und die Kirche gespalten worden. Das osmanische Reich sei dagegen stabil geblieben, die islamischen Gelehrten hätten aber damit auch den Anschluss verpasst. „Noch im 13. Jahrhundert lagen die meisten führenden Bildungsstätten in der islamischen Welt, im 18. Jahrhundert keine einzige mehr“, sagte Blume.

Viele islamische Staaten wie der Iran, Saudi Arabien oder auch Ägypten setzen auch heute noch nicht auf Bildung. Mit einer Aussage verblüffte Blume so manchen im Raum: „Alle Ölstaaten sind Rentierstaaten: Staaten, die sich nicht durch Steuern finanzieren, die ihre Bürger bewusst nicht durch Bildung fördern und somit in Abhängigkeit halten.“ Eine Kultur des Lernens, so Blume, habe sich selbst unter wohlhabenden Muslimen noch kaum entwickelt.

Immer wieder würde behauptet, Muslime würden viele Kinder in die Welt setzen. Mit diesem Vorurteil räumte Blome in Kirchheim auf. Mittlerweile habe sich die Entwicklung enorm geändert: Die Zahl der Geburten ginge in der islamischen, wie auch restlichen Welt, zurück und sei auch in der Türkei und im Iran bereits unter zwei Geburten pro Frau gefallen.

Viele Terroristen würden die Ängste der Gesellschaft gezielt aufgreifen, das zeige sich unter anderem in der Propaganda. „Der Islam scheint selbstbewusst zu expandieren. Sowohl muslimische Jugendliche wie auch Nichtmuslime fallen noch auf diese Story herein. Doch das Gegenteil ist der Fall.“

Wie sehen die Lösungen aus? Der Westen müsse seinen Ölverbrauch deutlich reduzieren, damit die Rentierstaaten unter Reformdruck setzen, und, wo immer möglich, Bildung und Dialog fördern, sagt Blume. Ein Schlüssel sei die Stärkung der Frauenrechte. „Es gibt in keiner Kultur einen Fortschritt an den Frauen vorbei. Wo Mädchen keine Bildung erhalten und Frauen diskriminiert werden, fängt auch die nächste Generation wieder bei null an“, plädierte er eindringlich an die Anwesenden.