Kirchheim
Jahrgang 1933 bis 1944: Ulla Reyhle berichtet über Kriegskinder im Altersheim

Trauma Der Zweite Weltkrieg hat bei den Jahrgängen 1933 bis 1944 seelische Wunden hinterlassen. Diplom-Sozialgerontologin Ulla Reyhle erklärt Mitarbeitenden pflegender Berufe, wie sie damit umgehen können. Von Helga Single

Sie setze auf die inneren Bilder der Zuhörer, von denen eine Power-Point-Präsentation nur ablenken würde, erklärt Ulla Reyhle zu Beginn ihres Vortrags. Die Diplom-Sozialgerontologin aus Tübingen, die auch Supervisorin und spirituelle seelsorgerische Begleiterin ist, gab ihre Erfahrungen zum Thema „Wie umgehen mit traumatisierten älteren Menschen“ an Mitarbeitende pflegender Berufe weiter. Der Hospizdienst hatte zu der jährlich stattfindenden Vortragsbildungsreihe ins Alte Gemeindehaus eingeladen. Und so gibt es kein Handout zum Vortrag und auch kein Skript. Ulla Reyhle spricht frei  über ihr Thema: hochbetagte Menschen jenseits der 80.

 

In deutschen Altersheimen tobt der Zweite Weltkrieg.
Ulla Reyhle
beschreibt, dass die Bewohnerinnen und Bewohner unter den Nachwirkungen von Gewalt, Flucht, Vertreibung und Heimatverlust leiden.

 

Eine historisch völlig neue Situation habe sich in den vergangenen Jahrzehnten ergeben. Während früher nur Einzelne ein sehr hohes Alter erreichten, gibt es heute viele mit einer sehr langen Lebenserwartung, deren Gegenwart aus den gemachten Erfahrungen und den Prägungen aus der Kindheit bestehe. „In deutschen Altersheimen tobt der Zweite Weltkrieg mit all seinen Ausprägungen von Gewalt, Flucht, Vertreibung und Heimatverlust“, sagt Ulla Reyhle. „Die Tore der Vergangenheit gehen weit auf.“ Stimmungsbilder, Gerüche und längst vergangene Situationen finden den Weg in die Köpfe der Seniorinnen und Senioren. Die am stärksten vertretene Altersgruppe der zu Betreuenden seien die Kriegskinder, die zu der gegenwärtigen Alterskohorte der über 80-Jährigen gehörten.

Der Begriff „Kohorte“ stamme aus der Soziologie und fasse Jahrgänge im Abstand von zehn Jahren zusammen. Diejenigen, die in den Jahren 1933 bis 1944 geborenen wurden, haben die Wucht des Kriegs noch unmittelbar als kleine Kinder erfahren. „Ein Drittel dieser Jahrgänge sind traumatisiert“, erklärt Ulla Reyhle.

Diese Menschen bilden die größte Gruppe in den Alters- und Pflegeheimen. Dabei spielte es eine Rolle, ob sie im ländlichen Bereich oder im städtischen Umfeld aufgewachsen seien, denn hier seien die Erfahrungen von Hunger unterschiedlich. Viele teilten das Schicksal, vaterlos aufgewachsen zu sein, und als die Väter aus dem Krieg zurückkamen, gab es neue Konflikte, denn zwischen den Müttern und den Kindern hätte sich eine ausgeprägte „Überlebensgemeinschaft“ gebildet.

Die Kinder besorgten Brennholz, beschafften Lebensmittel und fanden wenig Platz für eine eigene Kindheit und wenig Zeit, um zu trauern. „Die Mütter kämpften, und die Kinder mussten funktionieren“, sagt sie, daraus resultierte ein Trauerverbot, und „irgendwo zwischen Kämpfen und Trauern in der Mitte liegt das Trauma und ist eine Form der seelischen Erstarrung“, sagt Ulla Reyhle.

Härte gegen sich selbst

Nationalsozialistische Erziehungsmethoden und früh erfahrene Trennungen wie bei der „Kinderlandverschickung“ hättenihr Übriges dazu beigetragen. Johanna Haarer, eine Ärztin und Psychologin, hat 1934 das Buch „Die deutsche Mutter“ veröffentlicht. Nach heutigen Erkenntnissen der Bindungsforschung seien viele Ratschläge daraus nicht zum Vorteil für eine gute Mutter-Kind-Bindung gewesen.

Nach der Geburt wurde der Säugling in ein Steckkissen eingewickelt und nach bestimmten Uhrzeiten mit einer festgelegten Menge gefüttert. Die Babys sollten sich selbst beschäftigen und durchaus durchschreien, was die Lungen stärkte, war man der Meinung. Ziel der Erziehung war, den Willen zu brechen und die Kinder zu einer Beziehungslosigkeit und Bedürfnislosigkeit hin zu erziehen, denn nur so seien sie gut manipulierbar gewesen, erklärt die Diplom-Sozialgerontologin. Zu beobachten sei, dass diese Generation eine Zähigkeit und Härte gegenüber sich selbst entwickelt habe und ihre Bedürfnisse nur schwer wahrnehmen könnten, die Verdrängung sei hoch. „So war’s halt, es ging allen so, uns hat nichts gefehlt“, sei die vorherrschende Sichtweise auf die Dinge.

Nach dem Krieg kam das Wirtschaftswunder, aber auch ein Gefühl der Scham, der Schuld und des Entsetzens ging umher. Erst die Alt-68er, also die zwischen 1948 bis 1956 Geborenen, durchbrachen das Schweigen, und „danach war nichts mehr wie zuvor“. In den Köpfen der Kriegskinder verschmelzen Gegenwart und Vergangenheit, und einige ihrer Verhaltensweisen resultierten aus jenen Zeiten.

Angst vor geschlossenen Räumen, eine Form der Bevorratung, Vermeidung von Menschenansammlungen, leicht erschreckbar zu sein oder einen hohen Muskeltonus zu haben, weil man nicht wusste, wann es wieder in den Bunker ging, sind alles Überbleibsel jener schweren Jahre. Nicht wenige hätten sich einen Panzer zugelegt, der sie nicht mehr „wachsen“ ließe, und so erleben die Jüngeren oft, dass Oma oder Opa immer die gleichen Geschichten erzählten, oft wortwörtlich sogar. Dies sei ein Zeichen von Trauma, erzählte die Expertin, denn die Erinnerungen sind der „Helikopter, der einen Landeplatz sucht“, ließen die Erzähler aber in ihrer eigenen Welt zurück.

Wie damit umgehen? Und wie könne man unterstützen? Eine Lösung sei nur auf emotionaler Ebene zu finden. „Oft weinen sie heftig, dann geht der Panzer etwas auf, das ist gut“, erklärt sie. Einfühlsame Fragen nach ihren Gefühlen mit gleichzeitiger Würdigung der Lebensleistung und den Raum für Ressourcen zu schaffen, ließen eine gewisse Leichtigkeit entstehen, in der die Aussöhnung mit der eigenen Biografie gelänge, empfahl sie. Denn gerade Unversöhnliches mache das Sterben schwer, was alle Arbeitenden mit Menschen in Heimen und Hospizen wüssten.

 

Eine Frau in vielen Ämtern

Ulla Reyhle ist seit 1973 Diplom-Sozialarbeiterin und leitete die Diakonische Bezirksstelle in Tuttlingen. Nachdem ihr der Titel Diplom-Sozialgerontologin von der Universität Kassel verliehen wurde, dozierte sie an der Dualen Hochschule Heidenheim im Fachbereich Sozialwesen. Seit 1996 ist sie Supervisorin an der Universität Tübingen. Außerdem ist sie Dozentin für Gemeindediakonie und Gemeindepädagogik im Kirchlichen Bildungszentrum Kloster Denkendorf. Seit 2010 arbeitet sie als Geistliche Begleiterin und ist im Bereich der Bildungsarbeit, Supervision und Geistliche Begleitung selbstständig. 2014 wurde sie zur stellvertretenden Vorsitzenden der „Evangelischen Senioren in Württemberg“ (LAGES) gewählt. his