Kirchheim
„Jeder kann zum Flüchtling werden“

Filmprojekt Nurit Carmel zeigt in Kirchheim ihren Dokumentarfilm „Being a Refugee“. Der Film ist auch eine Würdigung von Brigitte Kneher. Von Florian Stegmaier

Nurit Carmel zwischen Anna Oeffling und Bernhard Sigel, die als Lehrkräfte an der JFS den Israelaustausch betreuen. Foto: Florian Stegmaier

"Jeder kann zum Flüchtling werden“ – die Kernbotschaft von Nurit Carmels Film „Being a Refugee“ ist durch ihre eigene Familiengeschichte belegt. Den Schülern der Kirchheimer Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule erzählte sie vom Schicksal ihres in Berlin geborenen Vaters. Am 8. November 1938, einen Tag vor der Reichspogromnacht, erreichte die Familie eine Warnung: Verhaftung und Deportation stünden unmittelbar bevor. Plötzlich waren sie
Flüchtlinge, die um ihr Leben rennen mussten. Noch als erwachsener Mann habe der Vater stets eine Taschenlampe mit sich geführt – eine Folge der traumatischen Flucht in stockdunkler Nacht.

 

Es war wichtig für mich, zu wissen, dass dadurch ein anderer Mensch gerettet wurde.
Brigitte Kneher über den Austausch mit jüdischen Gefangenen aus Bergen-Belsen
 

Nurit Carmel kann auf reiche Erfahrung als Filmemacherin zurückblicken. In Israel hat sie Filmprojekte für die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem betreut. Ihr Dokumentarfilm „Being a Refugee“ verschränkt heutige Fluchterfahrungen mit Zeitzeugen des Holocaust. Seine Dramaturgie ist dem interreligiösen Dialog verpflichtet. Denn Erzählungen von Flucht und Vertreibung sind für Juden, Christen und Muslime gleichermaßen identitätsstiftend. Doch das ist kein Selbstläufer.

Carmels Dokumentation beleuchtet einen bemerkenswerten Akt der Solidarität: Im Jahr 2018 lebten über 40 000 Migranten in Israel. Mehrheitlich Menschen aus Eritrea und Sudan – Länder, die für gravierende Menschrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden. Die israelische Regierung verabschiedete einen Plan zur massenhaften Abschiebung der Schutzsuchenden. Vehemente Proteste der Bevölkerung konnten das verhindern. Auch Holocaustüberlebende und jüdische Geistliche waren unter den Demonstranten. Einer von ihnen ist Jochanan Flusser. Seine Organisation „Achlah“ leis­tet humanitäre Hilfe nach dem jüdischen Prinzip des „Tikkun olam“ – der „Wiederherstellung der Welt“. „Die Ethik der Thora resultiert aus dem Leiden des jüdischen Volkes“, sagt Flusser, „und die Fremdenliebe ist das am häufigsten wiederholte Gebot der Thora.“ Die Fürsorge für die Schwachen sieht Flusser als Aufgabe des Staates. Doch viele Menschen sind vor ihrem Staat auf der Flucht.

Für ihr Filmprojekt hatte Carmel rund 100 Familien kontaktiert, die der Hizmet-Bewegung nahestehen und nach dem Putschversuch im Juli 2016 aus der Türkei fliehen mussten. Eine einzige Familie traute sich vor die Kamera. Zu groß war die Angst, auch in Deutschland den langen Arm des türkischen Geheimdienstes zu spüren.

Mit „Being a Refugee“ ist Nurit Carmel ein bemerkenswerter Film gelungen. Authentisch und nahbar setzt sie ihre Interviewpartner in Szene. Carmel verbindet dokumentarisches Ethos mit einem empathischen Blick, der die Würde des Gegenübers betont. So universell das Thema Flucht und Migration ist, so spezifisch ist auch der lokale Bezug, den „Being a Refugee“ zur Teckstadt knüpft. Denn der „Star“ des Films ist Brigitte Kneher. In Kirchheim ist ihr Name untrennbar mit der Geschichte des jüdischen Lebens verbunden. Geboren wurde Kneher in Palästina, wohin ihr pietistischer Urgroßvater ausgewandert war.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden die Kolonien der württembergischen Tempelgesellschaft zu britischen Internierungslagern. Ein Austausch mit jüdischen Gefangenen aus Bergen-Belsen ermöglichte es ihr, nach Deutschland zu kommen. „Es war stets wichtig für mich, zu wissen, dass dadurch ein anderer Mensch gerettet wurde“, sagt Kneher im Film. Knehers Geschichte überkreuzt Carmel mit der Biografie von Mirjam Bolle – einer derjenigen Inhaftierten, denen der Gefangenenaustausch das Überleben sicherte. „Being a Refugee“ macht deutlich, wie Flüchtlingsschicksale über ethnische und his­torische Grenzen hinweg verbinden. Und er zeigt, wie Menschen unterschiedlicher Glaubensvorstellungen gemeinsam Verantwortung tragen. Für die Schüler der JFS ein eindrückliches Erlebnis, wie die gehaltvolle Diskussion belegte.