Kirchheim
Karl Mays Besuch war wenig heroisch

Literatur Der berühmte Abenteuerschriftsteller war zwar Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich zu Besuch bei Max Weise in Kirchheim – aber nur für kurze Zeit und auch nicht, um ungestört schreiben zu können. Von Eberhard Sieber

Über Generationen hat sich das Gerücht in Kirchheim gehalten, der berühmte Schriftsteller Karl May habe die hier ansässige Familie Weise besucht. Erst in den 1970er Jahren lüftete der Karl-May-Forscher Fritz Maschke das Geheimnis. Er berief sich auf einen Satz, den May am 1. Oktober 1898 aus Radebeul an seinen Verleger schrieb: „Wie Sie aus meiner Karte ersehen haben, war ich nicht daheim, sondern wegen der täglichen lästigen Leserbesuche nach einem einsamen Ort geflohen“.

Maschke identifizierte diesen Ort mit Kirchheim. Der Literaturhistoriker Martin Lowsky behauptete daraufhin sogar, May habe „höchstwahrscheinlich“ den Dialog über das Reisen in seinem Roman „Am Jenseits“ in Kirchheim geschrieben. Dass die Kirchheimer davon nichts erfahren haben, läge daran, dass May ungestört arbeiten und dem Rummel um seine Person entfliehen wollte.

Alle Details dieses Besuchs gehen von der Annahme aus, Kirchheim sei der „einsame Ort“, an den Karl May geflohen sei, um dem Starrummel zu entgehen. Hartmut Wörner aus Schorndorf berichtet aber, dass bei einer Auktion 2010 eine Postkarte vom 29. September 1898 aufgetaucht ist. May schrieb aus Mulda bei Freiberg, „wo wir schon eine Reihe von Wochen bei herrlichem Wetter vergnügt sitzen“. Ein Telegramm belegt, dass May schon am 14. September 1898 in Mulda war. Martin Lowsky hat deshalb seinen Aufsatz zurückgezogen und bezweifelt inzwischen, „dass der Besuch überhaupt stattgefunden hat“.

In der Tat gab es einen Grund für einen Besuch des Ehepaars May bei der Familie Weise in Kirchheim: Die Ehefrauen kannten sich aus ihrer Jugendzeit und waren befreundet. Emma Pollmer und Emma Brehmer lebten in Hohenstein in Sachsen praktisch Tür an Tür. Beide heirateten im Jahr 1880, Karl May und Emma Pollmer am 31. Juli in Hohenstein, Max Weise und Emma Brehmer am 17. August im benachbarten Ernstthal.

Weise leitete eine Dampfkessel- und Maschinenfabrik in Freiberg in Sachsen. Dort erfuhr er von einem Fabrikverkauf im Königreich Württemberg. Er kaufte 1887 von Emil Helfferich eine kleine Schrauben- und Flanschenfabrik am nördlichen Rand von Dettingen. Die Firma florierte, und bereits 1891 konnte Weise aus einer Zwangsversteigerung die „Speisersche Oelmühle“ an der Dettinger Straße in Kirchheim erwerben. Der Standort wurde zur Keimzelle der künftigen mittelständischen Fabrik. Bereits 1892 konnte Weise sich eine repräsentative Villa bauen lassen, in einem ausgedehnten Grundstück gegenüber der Fabrik.

Wie konnte nun das Gerücht entstehen, May sei dort gewesen? Ein neuer Quellenfund kann das Rätsel lösen. Hans Battenschlag, Sohn des Gründers der Strumpffabrik Battenschlag, berichtet aus seiner Jugend, wie er und seine Kameraden von Karl Mays Roman „Der Schut“ begeistert waren.

„Gar nicht so heldenmäßig“

Sein Vetter Alfred habe Karl May sogar gesehen - „in Kirchheim, wo er den Fabrikanten Weise, mit dem er verwandt sei, besucht habe. Die Frau von Karl May sei ihm nämlich durchgegangen und habe bei der Familie Weise Zuflucht gesucht und sich dort aufgehalten. Herr Weise habe aber die Frau May nicht auf die Dauer im Hause behalten wollen, deshalb habe er an Karl May geschrieben, er solle kommen und seine Frau wieder abholen. Der Sohn von Herrn Weise, Fritz, der damals in die sechste Klasse gegangen sei, habe seinen Schulkameraden erzählt, dass sein berühmter Onkel zu ihnen auf Besuch kommen werde, um seine Frau abzuholen, die sich seit einiger Zeit bei ihnen im Hause aufhalte. [...] Als er nun tatsächlich gekommen sei, habe er, Alfred, und viele andere Schüler Weises Haus belagert, um Karl May zu Gesicht zu bekommen; sie hätten ihn auch tatsächlich gesehen und zwar, wie er in Weises Chaise zusammen mit seiner Frau fortgeführt worden sei. Da hätten alle Buben Hoch geschrien, aber Karl May habe sehr verdrossen dreingeschaut und sich nichts aus den Beifallrufen gemacht, überhaupt habe er gar nicht so heldenmäßig ausgeschaut, wie man dies auf Grund seiner Bücher hätte meinen sollen.“

Damit ist klar: Karl May war tatsächlich in Kirchheim, wenn auch aus einem ganz prosaischen Grund. Der genaue Zeitpunkt des Besuchs kann nicht bestimmt werden. Fritz Weise war in der 6. Klasse, also ungefähr 16 Jahre alt. Er ist 1881 geboren, der Besuch war wohl 1897 oder 1898. Gegen einen längeren Besuch spricht auch die Tatsache, dass Max Weise in der Eheauseinandersetzung für Emma May Partei ergriff und May bei den Weises „persona non grata“ war. Emma nahm nach der Scheidung 1903 wieder ihren Mädchennamen an und ist wohl später noch in Kirchheim gewesen. Die Weises haben ihr 1909 sogar aus einer finanziellen Klemme geholfen.