Ganz „normale“ Bürger nehmen einmal dort Platz, wo sonst Kommunalpolitik gemacht wird. Über 100 Gäste im Großen Sitzungssaal des Rathauses - eher selten, dass dort so ein Andrang herrscht. Anlass ist ein Vortrag von Barbara Honecker über revolutionäre Architektur- und Design-Ideen. Die legendäre „Bauhaus“-Bewegung feiert dieser Tage Jubiläum. Grund genug, beim „Tag des offenen Denkmals“ näher beleuchtet zu werden. Wie passend, das diesjährige Motto lautet: „Modern(e): Umbrüche in Kunst und Architektur“.
Das „Bauhaus“ war eine Kunst- und Designerschule. Gegründet wurde sie vor einhundert Jahren in Weimar und zog später um nach Dessau. Die Idee, die dahintersteckt: die Zusammenführung von Kunst und Handwerk unter Berücksichtigung neuer Möglichkeiten im Industriezeitalter. „Gründer war Walter Gropius“ erinnert Barbara Honecker an den berühmten Architekten. Steckenpferd der Kirchheimer Kunsthistorikerin ist genau dieses „Bauhaus“. Einige Kirchheimer hat sie dieses Jahr sogar schon im Rahmen einer Studienreise an die Originalstätten der Bewegung geführt.
Bei ihrem Vortrag im Sitzungssaal holt sie für alle anderen ein wenig aus: „Wie sah die Architektur vor 1919 allgemein aus?“ Historismus, Jugendstil, konservative oder gar reaktionäre Baustile, die Industrialisierung und Moderne lange verschlafen hatten. „Stuttgart, Haus der Wirtschaft, 1896 - sieht doch aus wie ein Schlössle, oder?“, fragt sie in die Runde und zeigt ein Foto des pompösen Bauwerks. „Ich sag immer: Mixer. Alle Stile rein: Barock, Renaissance, und dann kommt so was raus.“ Das ehemalige Schlossgymnasium in Kirchheim, heute Alleenschule, 1909 gebaut, war noch ein ganz typischer Schulbau, mit Jugendstilelementen und klassischer Aufteilung in linken und rechten Flügel. Nur 15 Jahre später entstand in Ostdeutschland der Mythos „Bauhaus“ - minimalistisch, schnörkellos, Glas, Stahl und völlig neue Raumaufteilungen.
„Schauen Sie sich mal an, wer die Lehrer waren: Wassily Kandinski, Paul Klee.“ Der Mythos „Bauhaus“ hat viele bekannte Gesichter. Auch der Stuttgarter Künstler Oskar Schlemmer unterrichtete am Bauhaus. Schlemmer erfand in Dessau neue Formen von Theater und Ballett und wurde damit weltberühmt; Ludwig Mies van der Rohe, Planer der Weißenhofsiedlung in Stuttgart, später Architekt des Seagram Buildings in New York. Die „Crème de la crème“ der Avantgarde-Künstler also. „Dabei sahen die ja alle so konservativ aus“, schmunzelt Barbara Honecker beim Blick auf ein Gruppenfoto der Macher.
Industriedesign, Einrichtungsklassiker und Fotografie in neuem Stil nahmen ihren Ausgangspunkt im „Bauhaus“. Nicht zu vergessen: Einziger Verkaufsschlager der „Bauhaus“-Schule ist und bleibt die Tapete, feine Muster und Oberflächenstruktur, die es heute noch von der Firma Rasch zu kaufen gibt. Im krassen Gegensatz dazu Stahl- und Glasbauten, für die die Zeit noch nicht reif war und die Materialien schon gar nicht. Barbara Honecker findet: „Viele Bauten waren völlig unbrauchbar nach heutigen Maßstäben.“ Dennoch war das „Bauhaus“ eine unvergleichliche Ideenschmiede für zeitlose Architektur.
Die Epoche dauerte insgesamt nur 15 Jahre, dann war unter dem Druck der Nationalsozialisten Schluss. Die Architekten und Künstler kehrten Nazi-Deutschland den Rücken und trugen ihre avantgardistischen Ideen in alle Welt.
Was genau hat das jetzt alles mit Kirchheim zu tun? Zunächst nichts, aber: Späte Einflüsse des Bauhauses sind im Stadtgebiet zu sehen. Die Siedlungsbauweise des Weißenhofs hat im Wohngebiet „Dettinger Weg“ Pate gestanden. In Kirchheim gibt es Laubenganghäuser. „Ein Mehrfamilienhaus - wie geh ich da rein? Schwierige Geschichte“, findet die Kunsthistorikerin. Die Treppenhäuser mit den Wohnungseingängen sind außen vor die Fassaden gesetzt. Erfunden hat die Gebäudeform der Nachfolger von Walter Gropius, Hannes Meyer. In Kirchheim stehen solche Häuser zum Beispiel in den Badwiesen.
Bauhaus-Architekt Gustav Adolf Schneck, der auch zu den Weißenhof-Planern gehört, hat in Kirchheim mehrere Gebäude gebaut, „mit revolutionären Grundrissen für die damalige Zeit“. Leider wurden die Häuser abgerissen. Die Flachdachbauten in der Kitteneshalde erinnern stark an die Architektur eines Mies van der Rohe und seiner Studenten am „Bauhaus“. Auch die Gestaltung des katholischen Gemeindehauses St. Ulrich lässt an Mies van der Rohe denken. Und auch die Raunerschule ist für Barbara Honecker eine „Auseinandersetzung mit den Gedanken des Bauhauses“.