Man möchte wegschauen, darf aber nicht. Was die Beamten des Dezernats K1 bei der Kripo Esslingen im Alltag erleben, prallt auch an hartgesottenen Kollegen nicht ab. Der Arbeitsbereich zur Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen, wie es in sperrigem Beamtendeutsch heißt, widmet sich einem rasant wachsenden Aufgabenfeld in der Verbrechensbekämpfung. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist ein Thema, das nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaft beschäftigt, sondern zunehmend auch die Sozialen Dienste im Landkreis. Wenn in den kommenden Wochen eine bereits beschlossene Gesetzesverschärfung greift, rechnen die Behörden damit, personell an Grenzen zu stoßen.
Während die Zahl der körperlichen Gewalttaten seit zehn Jahren relativ konstant ist, nimmt Kinderpornografie im Netz eine dramatische Entwicklung. Jens Baierschmitt, Kriminalhauptkommissar und Leiter des K1 in Esslingen, berichtet von jährlichen Steigerungsraten zwischen 60 und 70 Prozent. Er nennt diesen Trend „unfassbar“, und er rechnet damit, dass sich diese Entwicklung weiter verschärft. In selbem Maße wie Speicher von Datenträgern wachsen, wächst auch die Zahl der Fotos und Videos im Netz. Schon deren Besitz und Weitergabe ist strafbar. Denn: „Hinter jedem Foto steckt ein realer Missbrauch“, sagt der Kripobeamte.
157 Verfahren sind zurzeit allein im Kreis Esslingen registriert. Das reicht vom Besitz pornografischer Dateien bis zum sexuellen Missbrauch mit Todesfolge. Im gesamten Bereich des Polizeipräsidiums, zu dem auch die Landkreise Reutlingen, Tübingen und der Zollernalbkreis zählen, sind es 330 Fälle. Der Schwerpunkt liegt also hier im Kreis, der fast die Hälfte der Bevölkerung aller vier Landkreise stellt. Das Beunruhigende daran: Die Zahl der Fälle, die im Verborgenen bleiben, liegt nach Expertenmeinung deutlich höher.
Rund 70 Prozent der Arbeit der Kripobeamten macht inzwischen das Betrachten und Auswerten von Bildmaterial aus. Wo Verdacht und Hinweise klar sind, kommt die Staatsanwaltschaft ins Spiel. Dann werden IP-Adressen ermittelt, Wohnungen durchsucht und Speichergeräte beschlagnahmt. Gehören Kinder oder Jugendliche zum Haushalt, werden die Sozialen Dienste des Landkreises oder Beratungsstellen wie Kompass und Wildwasser einbezogen. Eine Zusammenarbeit, die wichtig ist, gut funktioniert und ständig intensiviert wird, wie Baierschmitt betont.
„Nicht jeder Konsument von Kinderpornografie wird ein Täter“, weiß der Kripomann. „Aber die Wahrscheinlichkeit dadurch steigt.“ Wann also wird es Zeit, Kinder aus Familien zu holen und in behördliche Obhut zu geben? Eine Gratwanderung. Die Gefahr richtig einzuschätzen, ist nicht immer einfach, wie jüngste Beispiele wie das im westfälischen Lügde zeigen, wo den Behörden massives Versagen vorgeworfen wird. „Das Wohl des Kindes ist unsere Maxime“, stellt Landrat Heinz Eininger als Behördenchef im Esslinger Landratsamt fest. „Lieber greifen wir zu früh ein als einmal zu spät.“
Für Politikerinnen wie die SPD-Kreisrätin Solveig Hummel zeigt sich, dass Beratungsstellen wie Wildwasser oder Kompass „die Anlaufstellen schlechthin sind“. Die Höhe der Zuschüsse an beide Einrichtungen ist immer wieder Thema in Haushaltsrunden. Von über 200 Beratungsfällen bei sexualisierter Gewalt im vergangenen Jahr berichtet allein Kompass in Kirchheim. Zwei Drittel davon in Zusammenhang mit Kindern. Wie sich der Lockdown auswirkt, vermag Leiterin Angelika Schönwald-Hutt nicht zu sagen. „Solange die Kinder fast nur zu Hause sind, fehlt oft die Ansprechperson, der sie sich mitteilen“, sagt sie. „Das setzt viel Vertrauen und meist mehrere Anläufe voraus.“ Was das Jahr bewirkt hat, meint sie, werde man wohl erst später wissen.