Geld ist da – aber es wird oft woanders ausgegeben. Das ist, vereinfacht ausgedrückt, die Erkenntnis, die sich für den Esslinger Einzelhandel aus einer aktuellen Studie der Industrie- und Handelskammer (IHK) ziehen lassen. Demnach verliert die Stadt Kaufkraft an andere Kommunen sowie den Versand- und Online-Handel – währen andere Mittelzentren in der Region Stuttgart, wie Ludwigsburg, Böblingen oder Göppingen, Besucher aus dem Umland anziehen. Derweil ist Kirchheim den Daten zufolge eines der attraktivsten Einkaufsziele. Die Teckstadt steht auf Platz 9 der Städte mit der höchsten Zentralitätskennziffer in der Region.
Diese Kennziffer stellt das Verhältnis von Netto-Kaufkraftzufluss von außen und den -abfluss einer Kommune nach außen dar. „Ein Wert von über 100 bedeutet, dass der örtliche Einzelhandel mehr Umsätze erzielt, als nach der vorhandenen Kaufkraft der Bürger einer Stadt zu erwarten wäre“, lautet die Erklärung im Text zur IHK-Studie. Esslingen wird eine Zentralitätskennziffer von 97,2 zugeschrieben. Für Kirchheim beträgt der Wert 123,5.
„Es ist bitter, dass Esslingen so schlecht dasteht“, kommentiert Alexander Kögel, Vize-Präsident der IHK-Bezirkskammer Esslingen-Nürtingen und Esslinger Modehändler, die Zahlen. Vor Beginn der Coronakrise 2019 kam die Stadt immerhin noch auf einen Wert von 100, vor fünf Jahren betrug er 108,6. Der Einzelhandelsumsatz in den stationären Geschäften ist im Vergleich zu 2016 um fast 75 Millionen Euro gesunken. Darin spiegeln sich nach Einschätzung von Kögel und dem Geschäftsführer der IHK-Bezirkskammer, Christoph Nold, der Trend zum Online-Shopping und die Coronakrise wider. Zudem sehen sie Standortnachteile. „Esslingen ist in der klassischen Sandwich-Position“, erklärt Nold. Demnach kostet den Einzelhandel die Nähe zu Stuttgart Kunden.
Zudem sei der Weg mit dem Auto zu den großen Einkaufszentren in Sindelfingen und Böblingen nicht weit. Über eine große Shopping-Mall auf der grünen Wiese, das den Kaufkraftzufluss erhöht, verfügt Esslingen nicht. Das begrüßt Kögel allerdings. Kann solch ein Zentrum in der Peripherie den kleinen Geschäften in der Stadt doch schaden. Mit gemischten Gefühlen blickt er dagegen auf Bestrebungen, den Autoverkehr in der Innenstadt zu verringern, beispielsweise durch neue Fußgängerzonen wie die in der Ritterstraße.
„Man muss die Realität sehen“, sagt Karl-Michael Bantlin, Modehändler und Vorsitzender des City Rings Kirchheim, einer Gemeinschaft von Händlern, Gastronomen und Dienstleistern. Autofahrer seien die, die am meisten einkauften, deswegen setzen sich auch die Kirchheimer für die gute Erreichbarkeit ihrer Geschäfte ein. Die Teckstadt hat eine gesunde Entfernung zu Stuttgart und den Outlets in Metzingen, wie die städtische Wirtschaftsförderin Saskia Klinger erklärt. Sie zieht Kirchheim Kundschaft aus dem Lenninger Tal und anderen Kommunen im Umland an. Die Parkmöglichkeiten in der Innenstadt sind gut. Das Zentrum ist kompakt, die Fußwege zu den Geschäften kurz. Diese seien in großen Teilen inhabergeführt, alle Branchen vertreten – Kirchheim biete ein Komplettangebot, so Bantlin. Leerstände, die eine Innenstadt für die Kunden unattraktiv machen, gebe es im Gegensatz zu Esslingen kaum. Um Einzelhandel und Gastronomie zu stärken, wolle die Stadtverwaltung die Innenstadt „als zweites Wohnzimmer bespielen“, erklärt Klinger. Im Rahmen des Kirchheimer Sommers haben in diesem Jahr zahlreiche Veranstaltungen Besucher nach Kirchheim gelockt. Nach dem Corona-Lockdown seien die Geschäfte wieder gut angelaufen, so Bantlin, der eine Verbesserung zu 2020 feststellt.
Auch im Einzelhandel in Esslingen geht es aufwärts, wenn auch Alexander Kögel in seinem Geschäft weitere Umsatzeinbußen von bis zu 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr erwartet. Der IHK-Vize mahnt, man müsse nun weiter arbeiten an der Lebendigkeit der Innenstadt. Dafür tue Esslingen bereits viel. Kögel lobt etwa Projekte wie die kürzlich lancierte Zukunftsstrategie . Esslingen sei mit seinem Konzept vorne dran. „Heute gewinnt der, der schneller ist als die anderen“, gibt sich Alexander Kögel zuversichtlich im Wettbewerb der Städte um Kundschaft.
Was bedeutet der Begriff Zentralität
Studie Die IHK Region Stuttgart gibt jährlich Einzelhandelskennziffern für alle Kommunen in der Region mit mehr als 10 000 Einwohnern heraus. Alle zwei Jahre werden sie in einer Studie analysiert. Die zugrunde liegenden Daten beruhen auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes sowie auf Prognosen des Handelsverbandes HDE und der Beratungsunternehmen Michael Bauer Research, CIMA und BBE. Die Prognosen der Forscher sind gewissen Unsicherheiten unterworfen.
Zentralität Die Zentralitätskennziffer zeigt laut Studie das Verhältnis zwischen Einzelhandelsumsatz und einzelhandelsrelevanter Kaufkraft jeweils pro Kopf und gemessen am Bundesschnitt an. Bei einem Wert über 100 übersteigen die Kaufkraftzuflüsse aus dem Umland die Kaufkraftabflüsse aus dem Stadtgebiet stärker als im Bundesschnitt. Bei einem Wert unter 100 überwiegen die Abflüsse an das Umland. gg