Integration
Kirchheimer mit türkischen Wurzeln: „Ich habe nie zu 100 Prozent dazugehört“

Seit rund 50 Jahren lebt Sedat Aybulut in Kirchheim – und erfährt Dazugehörigkeit ebenso wie Ausgrenzung. Warum er als junger Kellner auf einmal Sergio hieß, für was er sich als Kind geschämt hat und welcher oft gehörte Satz ihn besonders schmerzt.

In Kirchheim lebt und arbeitet Sedat Aybulut trotz mancher Schwierigkeiten sehr gerne. Foto: Debora Schreiber

„Ich war schon als Kind ein geselliger Typ, der schnell Freunde findet. Ich habe mich in Kirchheim wohl gefühlt, ich habe mich normal gefühlt, aber dann habe ich auf eine Wand geschmiert gelesen: Türken raus!“, sagt Sedat Aybulut.

Der Kirchheimer mit deutscher Staatsbürgerschaft war rund elf Jahre alt, als seine Eltern mit ihm und seinen Geschwistern aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert sind. „Noch bevor meine Eltern uns bekommen haben, ist mein Vater in den Sechzigern nach Deutschland gezogen, um zu arbeiten“, erzählt Aybulut. Eigentlich habe er nur ein paar Jahre bleiben wollen, um Geld für seine Familie zu verdienen, aber die wirtschaftliche Lage in der Türkei sei immer schlechter geworden, sodass auch seine Mutter mit den in der Zwischenzeit geborenen Kindern folgte. 

 

Ich habe mich immer für die Straße geschämt, in der wir lebten.

Sedat Aybulut

 

In Jesingen begann für den damals Elfjährigen ein neues Leben. Dort hat die Familie Aybulut für zwei Jahre gelebt, ehe sie nach Ötlingen gezogen ist. „Ich habe mich immer für die Straße geschämt, in der wir lebten.“ Dort hätten nur die Außenseiter gewohnt. „Die Straße war heruntergekommen. Zu 80 Prozent haben dort nur Ausländer gelebt. Die 20 Prozent Deutsche waren Sozialfälle“, sagt Aybulut. Diese Zeit beschreibt er als sehr schwer und teilweise fast absurd: „Es gab einen Anwohner, der einen Rekord aufstellen wollte. Er hat versucht, mit seinem Auto am schnellsten durch die Straße zu fahren. Er hat es immer wieder versucht.“ 

Hilfe von Freunden

Auch die Zeit in der Schule sei nicht immer leicht gewesen: Er habe sich wohl gefühlt und hatte Freunde, und obwohl er kein Deutsch konnte, habe er es schnell gelernt. Seine Freunde hätten ihm dabei stets geholfen. Unschöne Momente habe es dennoch gegeben: „Meine Lehrerin hat mich vor der ganzen Klasse gefragt, ob es bei mir in der Türkei auch Kühlschränke gebe.“ Eine schmerzliche Erinnerung und ein Gefühl der Ausgrenzung – das er nach seinen Worten immer wieder erlebte. Als Kind war Sedat Aybulut bei einem Freund zum Spielen eingeladen, als die Mutter am Nachmittag gesagt habe: „Jetzt musst du dich ins Wohnzimmer setzen und warten, wir essen solange“, erzählt der Kirchheimer. Bei seiner Familie hätte es das nicht gegeben. Da hätte der Gast noch mehr bekommen als alle anderen, damit er sich wohlfühlt. Die Beispiele gehen ihm nicht aus.

Einmal habe er sich mit einem Kumpel geschlägert – als dessen Mutter davon erfuhr, sei die Reaktion sehr schlimm gewesen. „Sie hat gesagt, dass ich doch dahin zurückgehen soll, wo ich hergekommen bin“, so Aybulut. Ein Satz, der sich dem gebürtigen Türken eingeprägt hat und der ihn sein Leben lang begleiten sollte. Für den Satz brauche es nicht viel – der Streit um einen Parkplatz reiche völlig aus. „Immer hieß es: Geh doch dahin, wo du hergekommen bist.“ Heute betreibt er das Edison, einen Club in Kirchheim. Seine ersten Erfahrungen in der Gastronomie habe er in seinen 20ern als Kellner gesammelt – die seien nicht immer positiv gewesen. 

Gastronom und DJ: In Kirchheim betreibt Sedat Aybulut den Club Edison. Archivfoto: Markus Brändli

Plötzlich hieß er Sergio

„Ich habe bei einem Italiener in Wendlingen gearbeitet. Er hat gefragt, welche Nationalität ich habe. Ich habe geantwortet: türkisch. Er hat gesagt: Ab heute heißt du Sergio.“ Dass ein Türke nicht bei einem Italiener arbeiten konnte, ohne dass er fürchten musste, Gäste zu verlieren, habe er nicht verstehen können. Als Diskothekenbetreiber hat er später selbst ähnliche Erfahrungen gemacht. „Wenn ich zu viele Ausländer reinlasse, bleiben die Deutschen weg. Wenn ich zu viele Deutsche reinlasse, die Ausländer.“ Das müsse er im Auge behalten, sonst habe er keine Gäste mehr. Ein Umstand, den er bedaure, könnten doch schließlich alle zusammen Zeit verbringen. Hierin sieht er ein Problem der Gesellschaft, das vor allem die Gastronomen zu spüren bekämen. Vielen anderen bliebe es verborgen.

In Kirchheim lebt und arbeitet Sedat Aybulut trotz mancher Schwierigkeiten sehr gerne, und 80 Prozent der Menschen würden ihn immer sehr freundlich behandeln. In seinem Leben in Kirchheim habe es immer Menschen gegeben, die sein Potential erkannt hätten, ganz unabhängig von seiner Herkunft – wie den Kirchheimer Geschäftsmann Jürgen Straub. „Sie haben einfach nur mich als Menschen gesehen. Aber zwanzig Prozent wollen einfach keine Ausländer.“ Deshalb müsse er sagen: „Ich habe nie zu 100 Prozent dazugehört.“