Ein junger Mann, dunkle Haare und mit Vollbart. Leidenschaftlich lässt er seine Finger über die Klaviatur gleiten. Mal dynamisch, ja fast schon hektisch, ein anderes Mal eher elegant und ruhig. Seine Wirkungsstätte ist der Stuttgarter Untergrund. Am Charlottenplatz musiziert er am öffentlichen Klavier, und das wie kein anderer. Noten, um die richtigen Töne zu treffen, braucht er nicht. Um ihn herum sind immer einige Zuschauer, die ihm für einen kurzen, oder auch längeren Moment zuhören. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Bei Pendlern ist er inzwischen gut bekannt, und auch im Netz kursieren tausendfach geklickte Videos von ihm. Erst kürzlich war er im Fernsehen zu sehen.
Tränen in den Augen
Der Name des Mannes, der mit seinem Talent und seiner Geschichte alle fasziniert, ist Abdul Rahman Alali. Er ist 20 Jahre alt und wohnt in Kirchheim. „Ich war mit Freunden unterwegs und hab dieses Klavier in Stuttgart entdeckt. Am Anfang war ich nicht so oft dort, aber seit drei Monaten eigentlich jeden Tag“, erzählt Abdul.
Ich mag die Reaktionen von den Leuten. Erst sind sie schlecht gelaunt, und von einem auf den anderen Moment lächeln sie.
Klavierspieler Abdul Rahman Alali
Das Spielen am „Open Piano“ ist für ihn etwas ganz Besonderes: „Ich mag die Reaktionen von den Leuten. Erst sind sie schlecht gelaunt, und von einem auf den anderen Moment lächeln sie.“ Letzte Woche kam eine Frau zu ihm: „Weißt du eigentlich, dass du hier alle glücklich machst?“ Solche Komplimente freuen Abdul besonders. Manchmal haben seine Zuhörer sogar Tränen in den Augen, denn viele seiner Stücke sind emotionale Werke. Darunter „Mariage d’amour“ vom französischen Komponisten Paul de Senneville. Je nachdem wie Abdul sich gerade fühlt, kann er glückliche Lieder auch traurig spielen, und umgekehrt. „Ich bin auf einer anderen Ebene, ich lass’ einfach meine Emotionen raus.“
Lernen mit Youtube-Videos
Die meisten von Abduls Stücken sind Lieder mit bekannter Melodie. So das italienische Volkslied „Bella Ciao“ oder der Latino-Popsong „Despacito“ von Luis Fonsi. Auch die Klassik hat es ihm angetan: Ludwig van Beethovens Komposition „Für Elise“ war sein allererstes Stück, das er auf dem Klavier übte. Aber wie geht das, ganz ohne Noten lesen zu können?

„Ich gucke diese Videos auf Youtube an, wo die komischen Dinger vom Himmel fallen“ lacht Abdul. Gemeint sind damit Tutorials zu einzelnen Songs, die genau zeigen, welche Tasten der Klaviatur gedrückt werden müssen. Er erinnert sich noch, dass er anfangs ewig brauchte, um „Für Elise“ zu lernen. „Ich wollte oft aufgeben. Aber ich dachte mir: Wenn andere das schaffen, kriege ich das auch hin“. Er ist dran geblieben und hat es geschafft. Note für Note hat er auswendig gelernt, doch darauf hatte er irgendwann „keinen Bock mehr“.
Dann ging es erst so richtig los: Mit der rechten Hand spielt er die Original-Melodie. Links improvisiert er die Akkorde. „Wenn man viel übt, hat man das im Gefühl. Meine Finger machen das schon von ganz alleine“, sagt er. Inzwischen kann er Lieder vom bloßen Hören nachspielen, und auch ein selbst komponiertes Stück gehört zu seinem Repertoire. Wie viele Lieder er genau auf Lager hat, weiß er gar nicht. Schätzungsweise sind es 50. „Ich muss mir echt eine Liste machen“, stellt Abdul schmunzelnd fest.
Ein Antrag am Klavier
Der Charlottenplatz ist für das Naturtalent zu einem wichtigen Ort geworden: „Die Leute jubeln mir zu und machen Komplimente. Zudem habe ich dort meine Verlobte kennengelernt und ihr im Dezember einen Heiratsantrag gemacht. Sie hat Ja gesagt“, erzählt Abdul freudestrahlend. Ana heißt sie. Sie ist oft an seiner Seite, macht Videos von ihm und beobachtet die vorbeiströmenden Zuhörer. Als Abdul den Antrag machte, spielte er „River Flows In You“ vom südkoreanischen Star-Pianisten Yiruma, ihr absolutes Lieblingsstück.
Der eigentliche Startschuss seiner Musiker-Karriere fand an einem ganz anderen Ort statt: der Kirchheimer Alleenschule. Ende 2016 hatte er seine Heimat Syrien verlassen und ist mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern nach Deutschland gekommen. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahr länger hier. Von der sechsten Klasse an besuchte Abdul die Hauptschule. In der Musik-AG hat er erstmals Tonleitern gespielt. Sein damaliger Lehrer an der Alleenschule erkannte sofort: Der Junge lernt schnell und hat Talent. Abdul bekam die Erlaubnis, am Klavier in der Schule üben zu dürfen. „Ich hab auch ein Keyboard zu Hause, aber das klingt lange nicht so gut“, sagt Abdul.
Der Traumberuf
Vor drei Jahren machte er seinen Abschluss und ist seitdem auf der Suche nach einer passenden Ausbildung. Er hat sich für einige Stellen beworben, bisher jedoch nur Absagen erhalten. „Die meisten wollen Mittlere Reife, das hab ich aber nicht“, sagt der Kirchheimer. Doch er hat einen Plan: „Ich kann mir gut vorstellen, als Verkäufer zu arbeiten. Wenn ich die Ausbildung fertig habe, geht es weiter. Dann kann ich irgendwann vielleicht sogar studieren“, erzählt Abdul von seinen Zukunftsplänen. Bis das soweit ist, hat er vielleicht auch schon als professioneller Pianist Karriere gemacht – damit würde für ihn ein Traum in Erfüllung gehen. Einen passenden Künstlernamen hat er auch schon im Blick: „Der Mann am Klavier. Das gefällt mir eigentlich ganz gut“.