Wenn die eigene Mutter nicht mehr aus dem Bett kommt oder es nicht schafft, das Pausenbrot für die Schule fertig zu machen, kann das für ein Kind sehr belastend sein, erklärt Dimitrios Kourtoglou, Psychologe und Bereichsleiter der psychologischen Beratungsstelle Tragwerk in Kirchheim. Immer mehr Kinder und Jugendliche melden sich in der Beratungsstelle, weil ihre Eltern mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, sagt Jürgen Knodel, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Tragwerk. Damit nicht genug: Die Zahl der Beratungsnachfragen habe im vergangenen Jahr in vielen Bereichen stark zugenommen.
Für den drastischen Anstieg, so Kourtoglou, kann es viele Ursachen geben. Neben Corona spiele Social Media – sowohl im Positiven als auch im Negativen – eine wichtige Rolle. Was sich deutlich verbessert habe, ist das Bewusstsein vieler Jugendlicher für ihr eigenes seelisches Wohlbefinden. Sie würden viel eher merken, wenn es ihnen nicht gut gehe, als das noch vor ein paar Jahren der Fall war. Kourtoglou sagt: „Auf Social Media lernen die Jugendlichen, auf sich zu achten.“ Noch wichtiger: Sie würden sich auch Hilfe suchen.
Stetig vergleichen
Der Schatten, den Social Media werfe, sei jedoch nicht zu leugnen. Junge Erwachsene, so Kourtoglou, sind dem stetigen sozialen Vergleich ausgesetzt. „Wie oft geht der und der in den Urlaub, wie viele OPs hatte die und die“, führt Kourtoglou aus. Der Druck, mithalten zu können, sei immens, und der Selbstwert hänge von materiellen Gütern ab.
Nicht nur Kinder und Jugendliche haben das Gefühl, mithalten zu müssen – sondern auch die Eltern. Geburtstagspartys für etwa vier-Jährige mit riesigem Catering nehmen zu, sagt Knodel. Auch Vereine würden Geld kosten. Käme dann noch eine Trennung oder Scheidung dazu, müssten gleich zwei Haushalte finanziert werden.
Die Gründe für einen Besuch in der Beratungsstelle können vielfältig sein, der Weg dorthin solle jedoch in jedem Fall niedrigschwellig sein, sagt Jürgen Knodel. Dafür gibt es ab dem 26. September einen offenen Termin, an dem Jugendliche einfach vorbeikommen können. „Das passt vielleicht besser zu jungen Menschen, als sechs bis acht Wochen auf einen Termin warten zu müssen und diesen dann auch noch einzuhalten“, sagt Knodel.
Zwangloses Gespräch
Auch die Kontaktaufnahme übers Telefon oder E-Mail laufe sehr zwanglos ab, ein unangenehmes Stochern im Gespräch gäbe es nicht, sagt Kourtoglou. Die Teamassistentin vermittle die Hilfesuchenden nach einem zwanglosen Gespräch an ein passendes Teammitglied. „Hier machen alle alles, aber es gibt schon auch Schwerpunkte, auf die man spezialisiert ist“, sagt Dimitrios Kourtoglou. Der Wunsch nach einer Frau oder einem Mann könne natürlich geäußert werden.
Die Zahlen steigen
Innerhalb von sechs bis acht Wochen, so Knodel, findet das erste Gespräch statt. Vor Corona sind es noch zwei bis drei Wochen gewesen, aber die Nachfrage habe so stark zugenommen, dass sich die Wartezeit verlängert hat, sagt Knodel. Bei einem Psychotherapeuten, so Kourtoglou, müsse man zwischen einem und anderthalb Jahren warten. Zu der Beratungsstelle nach Kirchheim dürfe jeder kommen, allerdings könnten nicht alle Fälle vor Ort behandelt werden. Die Kontakte zu Psychotherapeuten werden auch vermittelt.
Die Aufgaben der Beratungsstelle sind vielfältig: „Wir erfüllen auch einen präventiven Zweck“, sagt Knodel. Zum Beispiel bietet die Beratungsstelle die Möglichkeit, sich im Garten zu treffen. Unter dem Motto „draußen sein“ könne ein zwangloser Austausch stattfinden. Bei Alltagsproblemen stehe das Team sofort mit Rat und Tat zur Seite. So könne verhindert werden, dass kleine Probleme groß werden.
Zum Schluss ist es Jürgen Knodel noch wichtig zu sagen, dass die Beratungsnachfrage stark steige, aber die finanzielle Situation angespannt sei: Die Freien Träger seien auf eine Unterstützung durch den Landkreis angewiesen.