Kirchheim
Kirchheimer Turmbläser: Mit der Trompete hoch hinaus

Musik Tobias Frodl gehört bereits als Jugendlicher zu den Turmbläsern. Am Samstag steigt der 14-Jährige mit drei weiteren Bläsern wieder die 112 Stufen zum Turm des Rathauses hinauf. Von Anke Kirsammer

Es ist kurz vor halb zwölf. Ein ganz normaler Samstag in Kirchheim. Von hier oben gleicht das Treiben in der Fußgängerzone einem lebendigen Wimmelbild: Kinderwagen schiebende Mütter und Väter biegen um die Ecke, auf dem Markt drängen sich die Menschen, zwei Mädchen hüpfen Richtung Stadtbücherei und skandieren voller Vorfreude: „Karussell, Karussell!“ Während sich einige Passanten vor dem Rathaus ein windstilles Plätzchen suchen und erwartungsvoll nach oben blicken, stimmen sich vier Bläser in der Turmstube ein. Wie zuvor die 112 Stufen hinauf zu ihrer „Muckenstube“, klettern die Trompeter und Posaunisten behende die Tonleiter in F-Dur nach oben. Noch sind die Dreiklänge nicht perfekt. „Guck, dass du den Ton stützt. Halt‘ die Trompete am besten mit beiden Händen“, sagt Heribert Diemer zu Tobias Frodl. „Die Viertel vor dem Atmen nicht wegschmeißen. Der Ton muss noch klingen.“

Seit einem halben Jahr gehört der 14-Jährige zum Team der Turmbläser. Heribert Diemer und Tobias Frodl trennen fast 70 Jahre. Was sie eint, ist die Freude an der Musik. „Es ist für mich eine Ehre, dass ich mitspielen darf“, sagt der Jugendliche. Dabei glänzen seine Augen fast genauso wie sein silbernes Instrument in der Sonne.

In der Bläserklasse der Freihof-Grundschule hatte der heutige Schlossgymnasiast die Liebe zur Trompete entdeckt. Wenn er sich zwischen dem Fußball und der Musik entscheiden muss, gewinnt bei dem Kicker, der beim TSV Ötlingen auf dem rechten Flügel spielt, meist die Musik. Froh ist er über das Verständnis, das seine Trainer aufbringen, wenn er wegen Proben oder einem Konzert hin und wieder nicht auf dem Rasen auflaufen kann.

 

Es ist für mich eine Ehre, mitspielen zu dürfen.
Der Turmbläser Tobias Frodl

 

„Atemberaubend“, findet Tobias Frodl den Blick vom Rathausturm. Heute bietet sich eine besonders weite Rundumsicht. Hannibal und Fernsehturm markieren den Horizont im Nordwesten, auf der Autobahn ziehen die Laster vorbei, und auf der „Schokoladenseite“ thront die Teck zur Linken, rechts spitzt der Hohenneuffen aus der blauen Mauer. „So gut ist die Sicht nicht immer“, sagt Heribert Diemer begeistert. „‘Ich freue mich‘, spielen wir heute“, kündigt er an. „Und wer sich nicht freut, ist selber schuld.“ Tobias Frodl jedenfalls freut sich, dass er wieder dabei ist. Wie oft er mit von der Partie ist, weiß er genau. Im vergangenen Jahr hatte er auf dem Turm bereits fünf Einsätze, dieses Jahr werden es insgesamt sieben sein. 

Von allen vier Seiten schickt das Quartett den bis zum Schafhof zu hörenden strahlenden Choral in die Stadt. Es ist genau dieses Strahlen, das Tobias Frodl an der Trompete fasziniert. Ihn beindruckt außerdem, dass sich mit nur vier Bläsern ein so kräftiger Klang und eine Vielstimmigkeit erzeugen lässt, „so dass es sich sehr gut anhört“. Auch dass sich mit gerade mal drei Ventilen durch den Ansatz sämtliche Töne hervorbringen lassen, findet er klasse. Um in immer höheren Sphären zu brillieren, übt er diszipliniert so gut wie jeden Tag eine halbe Stunde. Bis zum zweigestrichenen A bringt er es. „Ich habe den Ehrgeiz, noch mehr zu schaffen“, erzählt er. Bei der Musikauswahl ist er nicht wählerisch. Ob Rockiges, Pop oder klassische Stücke – „mir macht alles Spaß“, sagt der Neuntklässler.

Gemeinschaftsgefühl beim Musizieren

Beim Musizieren erlebt Tobias Frodl ein besonderes Gemeinschaftsgefühl, genauso, wenn die Trompete im Koffer mit unterwegs ist. Er schwärmt von einer Konzertreise nach Hamburg im vergangenen Jahr mit der Jugendkapelle und hofft darauf, dass die wegen Corona pausierende Bigband am „Schloss“ bald wieder loslegt. Und es ist wohl noch etwas, das ihn in einem Alter an der Musik festhalten lässt, in dem viele ihr Instrument in die Ecke stellen. Zusammen mit seinem Freund Lennart Mühlherr hatte Tobias Frodl als Drittklässler der Trompete die ersten Töne entlockt. Gemeinsam spielen sie heute in der Jugendkapelle und wie Tobias Frodl, so steigt auch Lennart Mühlherr – der bereits mit zehn Jahren als Turmbläser begonnen hatte – regelmäßig samstags hinauf auf den Balkon des Rathauses.

Beifall ist dem Nachwuchs so sicher wie den alten Hasen. „Da unten stehen unsere Fans“, sagt Heribert Diemer lachend und winkt zu zwei älteren Damen hinunter, die den getragenen Weisen jede Woche an der gleichen Ecke lauschen.

Wenn Tobias Frodl am Samstag erneut die steilen Treppen erklimmt, werden auch seine Eltern Monika und Stephan Frodl wieder wie viele Passanten vor dem Rathaus für ein paar Minuten innenhalten und beschwingt durch die Musik den Besuch in Kirchheims guter Stube mit einem Gang über den Wochenmarkt verbinden.

 

Die Tradition besteht seit fast 500 Jahren

1524 wird das Turmblasen in Kirchheim erstmals urkundlich erwähnt. Hinweise dazu haben Rainer Mühlherr, der geschäftsführende Vorsitzende der Stadtkapelle, und Stadtarchivar Dr. Frank Bauer in den Rechnungsbüchern der Stadt gefunden. In zwei Jahren wird das 500-jährige Jubiläum gefeiert.

Turmbläser warnten vom höchsten Turm die Stadt oder Burgen vor Gefahren Das Turmblasen entwickelte sich aus dem mittelalterlichen „Abblasen“ oder „Stundenblasen“ des Türmers. Zunächst wurden stündliche Signale ausgesandt, später Choräle. Das Choralblasen in Kirchheim wurde vermutlich erst mit dem Einzug der Reformation zur Tradition. Der Choral war eine Art der Predigt, die zu den Menschen getragen wurde. So konnten die Menschen zu Hause oder auf der Straße mitsingen oder mitbeten. Nicht bekannt ist, wie die Tradition der Kirchheimer Turmbläser in den vergangenen knapp 500 Jahren genau aussah.

Heute spielen die Turmbläser jeden Samstag um 11.30 Uhr den jeweils zum Kirchenjahr passenden Choral. Geblasen wird er von allen vier Seiten des Rathausturms. Begonnen wird Richtung Ötlingen. Der Leiter Heribert Diemer erklärt das damit, dass das Rathaus früher an der Stelle des Marktbrunnens stand und damals die erste Strophe den Schlossbewohnern galt. Die zweite Strophe geht Richtung Stadt, die dritte zum Vogthaus, die vierte gelte den Toten auf dem Alten Friedhof. Bis Mitte der 1980er-Jahre spielten die Turmbläser immer sonntags. 1985 wurde das Blasen auf den Samstag verlegt, weil viel mehr Menschen in der Stadt unterwegs sind.

Gespielt wird darüber hinaus an Heiligabend um 17 Uhr. Zu dem besonderen Festtag steigt ein Doppelquartett auf den Turm. Auch an Silvester, wenn die Turmbläser das alte Jahr verabschieden und die Teckläufer bei ihrer Rückkehr mit dem festlichen „Trumpet voluntary“ begrüßen, stehen Trompeter und Posaunisten in jeder Stimme in doppelter Besetzung auf dem Turm. „Das machen wir seit 1996“, so Diemer. Davor spielten die Turmbläser an Silvester um 20 Uhr. Besetzungsprobleme zur vorgerückten Stunde und die Idee, den Silvesterläufern einen glanzvollen Empfang zu bieten, führten zu der Neuerung, die sich bewährt hat. Die zwölf Turmbläser sind aktive und ehemalige Musikerinnen und Musiker der Stadtkapelle beziehungsweise der Jugendkapelle Kirchheim. pm/ank​