„Komm zu Tisch – eine Einladung an alle Nationen und Generationen“: Unter diesem Titel startete Renate Schweizer im Jahr 2005 ein besonderes Kunstprojekt, das die Menschen verbinden sollte. Sie begann, gebrauchte Teebeutel zu sammeln, diese zu trocknen und anschließend zu öffnen und zu entfalten. Auf diese Weise entpuppten sich aus den anfangs „klitschigen und ekligen Teilen“ verfärbte Papierstücke mit faszinierenden Mustern.
Von überall her bekommt die Künstlerin seither gebrauchte Teebeutel zugeschickt, aus denen sie ganz unterschiedliche Objekte, Collagen, Installationen und Skulpturen kreiert, aber auch Schmuck, Hüte und sogar Kleidung: 2006 entstand aus 600 Teebeuteln ein Kimono („der hält heute noch“). Im Jahr 2007 nähte Schweizer für ihre damals achtjährige Nichte ein Kleid aus Hagebutten-Teebeuteln: Sie nannte es das „Hagebutten-Trägerkleid“. Und genau dieses Kleid war es denn auch, mit dem sie zum ersten Mal auf der Hanji-Paper-Fashion im südkoreanischen Jeonju vertreten war: Dort wurde das außergewöhnliche Kleidungsstück 2008 auf dem Laufsteg präsentiert. Seither laden die Veranstalter der Show die Künstlerin jedes Jahr ein, ihre Fashion aus Teebeutelpapier einzureichen und zu zeigen. Auch heuer waren die Kreationen der 67-Jährigen am 11. Oktober wieder in Südkorea zu bestaunen.
Renate Schweizer hat viele Talente, die sich bereits im Kindesalter zeigten: Schon damals nähte und bastelte sie aus alten Stoff- und Wollresten Puppenkleidchen, Mini-Römersandalen für ihre Barbie „und einen Porsche für den Ken“. Aufgewachsen war sie in Kirchheim, wo sie die Freihof-Realschule besuchte. Noch genau kann sie sich an einen Schulausflug mit ihrer damaligen Lehrerin erinnern: Es war eine Müllsammelaktion in der Natur. „Die Lehrerin hat unseren Blick für dieses Thema geschult und mein Herz dafür geöffnet. Das werde ich nie vergessen.“
Die Klimakrise lässt keine einzige Fällung von Bäumen mehr zu.
Renate Schweizer
Aus scheinbar Wertlosem wieder Wertvolles schaffen, Hässlichem eine neue Ästhetik geben: Das ist ihr ein Anliegen und „Ausdruck meines höchsten Respekts gegenüber allem Lebendigen, vor allem gegenüber der Erde und der Natur“. Am Herzen liegen der Künstlerin das Beachten des ökologischen Fußabdrucks, das Prinzip der Nachhaltigkeit und der behutsame Umgang mit natürlichen Ressourcen. Die Klimakrise lasse keine einzige Fällung von Bäumen mehr zu – „auch nicht für Särge“, betont Schweizer, die sich für ihre Arbeiten „Meine letzte Behausung“ und „Mein Grabtuch in progress“ mit dem eigenen Tod beschäftigt hat. Dabei schuf sie aus gebrauchten Teebeuteln ihre eigene Urne und ein Leichentuch, in dem sie beerdigt werden möchte.
Bis zu ihrem 16. Lebensjahr lebte die Künstlerin in der Teckstadt, bevor sie nach Stuttgart zog. Dort lernte sie im „Theater am Faden“ das Schnitzen von Holz-Marionetten. Davon war sie derart fasziniert, dass sie beschloss, in Bochum im Rahmen einer Ausbildung die Kunst des Figurentheaters zu erlernen. Mit Erfolg: Im Laufe der Zeit hatte sie ihre eigene Puppenbühne und auch ein mobiles Figurentheater. Schließlich erhielt sie die Möglichkeit, über ein Auslandsstipendium und eine Begabtenförderung der Stuttgarter Markel-Stiftung ein Master-Studium am Arts-Institut of Boston in den USA zu absolvieren. Nach vielen Stationen, beispielsweise in Indien, Israel und der Schweiz, lebt sie seit 1993 als freischaffende Künstlerin, Kunstvermittlerin und Kuratorin in Karlsruhe und ist nach wie vor an zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland beteiligt.
Ihr „Hauptding“, wie sie selbst sagt, sind seit 18 Jahren die gebrauchten Teebeutel, aus denen sie auch eine große „Weltenbürgerdecke“ geschaffen hat - und ein etwa 2,50 Meter hohes und drei Meter breites „Weltenbürgernetz“, bestehend aus tausenden zusammengeknüpften Teebeutelfäden. Dafür lud sie jeden ein mitzuknoten – auch Unbekannte auf offener Straße. Es ging symbolisch darum, Teil einer Gemeinschaft zu sein, für die man sich einsetzt.
„Kunst ist ein Sensor, was in der Gesellschaft abgeht“, sagt Schweizer. „Das wurde gerade mit dem Netz spürbar.“ Am Anfang sei die Bereitschaft, sich zu beteiligen, groß gewesen. Doch seit 2015 und der Flüchtlingskrise in Europa hätten manche abfällig auf die Aktion reagiert, weshalb die Arbeit seither ruht. Gegen manches komme leider auch Kunst nicht an. „Es ist ein tolles Projekt, aber die Menschen müssen mitmachen.“