Der Wurf einer Handgranate auf eine Trauergemeinde in Altbach, Schüsse auf offener Straße in Esslingen und in Plochingen. Die Täter: Heranwachsende Bandenmitglieder, die über die gesamte Region Stuttgart verstreut sind. Die meisten davon mit Migrationshintergrund und aus sozial schwierigen Milieus. Für die Tat in Altbach, die im vergangenen Jahr bundesweit für Schlagzeilen sorgte, hat das Stuttgarter Landgericht am vergangenen Mittwoch eine zwölfjährige Haftstrafe verhängt.
Eine Zunahme von Gewalt wie in solch drastischen Fällen beobachten Polizei und Gerichte im Kreis Esslingen seit ungefähr zwei Jahren. Ohne drakonische Strafen – den berühmten „Schuss vor den Bug“ –, darin herrscht Einigkeit, funktioniert Abschreckung nicht. „Wir sind jedoch zwingend auf zusätzliche Angebote der Jugendhilfe angewiesen“, betont Nico Niese, Jugendrichter am Amtsgericht Esslingen. Er sagt: „Wegsperren können wir selber.“
Auch wenn die jüngsten Ereignisse schockieren: Die aktuellsten Zahlen der Jugendkriminalitätsstatistik für den Landkreis Esslingen von 2022 bewegen sich unter der Marke von vor der Pandemie. Einzige Ausnahme: Die Straftaten der unter 14-Jährigen haben zugenommen. Dort geht es mehrheitlich um Delikte wie Ladendiebstahl oder Sachbeschädigung. Was also Sorge bereitet, sind besonders gewaltbereite Intensivtäter. Für Gerichte und Behörden heißt das: schneller eingreifen, agieren statt nur reagieren. „Wir brauchen mehr passgenaue Angebote, die Qualität haben“, sagt Jugendrichter Niese, der nur allzu gut kennt, was man den Drehtür-Effekt nennt. „Die Kandidaten, die jetzt in U-Haft gehen“, macht er deutlich, „die hatte ich alle schon vor Jahren vor mir.“
Mit seinem engmaschigen Netz an Jugendhilfen gilt der Kreis Esslingen seit Jahrzehnten im landesweiten Vergleich als vorbildlich aufgestellt. Das weiß auch der Richter. Was fehlt, sind ausreichend sozialpädagogische Angebote, die Jugendliche während abzuleistender Arbeitsstunden begleiten. Schließlich enden fast 80 Prozent aller Jugendstrafverfahren mit einer Arbeitsauflage. Auch an Hilfen für jugendliche Sexualstraftäter mangelt es. „In diesen Bereichen klafft eine große Lücke“, stellt Niese fest. Für beide Felder soll die Kreisverwaltung nun ein Konzept erarbeiten. Darauf haben sich die Fraktionen im Jugendhilfe- und Sozialausschuss des Kreistages jetzt einstimmig verständigt. Beim Thema sexualisierte Gewalt sollen die Fachberatungsstellen von Wildwasser in Esslingen und Kompass in Kirchheim mit ins Boot.
Beim Thema Prävention ist seit jeher auch der Kreisjugendring mit seiner Expertise gefragt. Umso mehr hält es die Kirchheimer Kreisrätin Angelika Matt-Heidecker (SPD) für einen Fehler, dass das Projekt „Reset plus“ der Kinder- und Jugendförderung Ostfildern zum Jahresende eingestellt wurde, weil die Finanzierung aus europäischen Fördertöpfen auslief. Das Projekt widmet sich seit mehr als zehn Jahren Langzeitarbeitslosen und Schulabbrechern aus prekären Lebensverhältnissen. „Wir brauchen schnelle Lösungen, deshalb sollten wir auf die Erkenntnisse aus dieser bewährten Arbeit nicht verzichten“, stellte Matt-Heidecker fest. Jetzt soll eine weitere Förderung beantragt und über eine mögliche Brückenfinanzierung aus Rücklagen nachgedacht werden. Landrat Heinz Eininger nimmt beim Thema Prävention auch Polizei und Justiz in die Pflicht. Wo es gelte, klare Grenzen zu setzen, sei in erster Linie der Staat gefordert.
Kommentar: Die Gefahr hinter Zahlen
Statistiken sind gefährlich. Wenn es ums Thema Kriminalität geht, erst recht. Wo Gefühl und Realität oft weit auseinanderliegen, bringen auch amtliche Zahlen nur bedingt Licht ins Dunkel. Die jüngste Erhebung zur Entwicklung der Jugendkriminalität im Landkreis Esslingen wirkt auf den ersten Blick besorgniserregend. Neue Dimensionen von Gewalt, wie bei den Ereignissen in Altbach, Esslingen und Plochingen, die in den Bereich von Bandenkriminalität fallen, sind es auch. Sie zeigen, wohin toxische Männlichkeit und ein absurder subkultureller Ehrenkodex im Extremfall führen können. Und ja, sie sind auch ein Beleg für gescheiterte Integration.
Trotzdem ist Vorsicht geboten bei einem Thema, das seit jeher gesellschaftlich wie innenpolitisch Sprengkraft birgt. Wer den Blick etwas weitet, stellt fest: Jugendkriminalität ist in den letzten drei Jahrzehnten deutlich zurückgegangen und bewegt sich inzwischen fast wieder auf dem Niveau von Ende der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Das geht aus einer Analyse der Bundeszentrale für politische Bildung hervor, die auf polizeilicher Kriminalstatistik fußt. Die besagt auch, dass wer in jungen Jahren auffallend oft mit dem Gesetz in Konflikt gerät, dies in der Regel nicht ins Erwachsenenalter überträgt. In anderen Worten: Jugendkriminalität von heute ist – anders als häufig verlautbart – nicht die Erwachsenenkriminalität von morgen. Jugendliche sind hochgradig aktiv und testen im öffentlichen Raum Grenzen aus. Das zeigt der deutliche Rückgang der registrierten Jugendstraftaten im Verlauf der Pandemie.
„Ich wollte, es gäbe kein Alter zwischen zehn und 23 Jahren oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit“, soll William Shakespeare schon vor mehr als 400 Jahren geklagt haben. Diesen Satz würden auch heute wohl viele Zeitgenossen unterschreiben. Ein Argument für eine generelle Verschärfung des Strafrechts ist er nicht. Bernd Köble
„Unsere Lebenswelt ist nicht eure“
Die Bruderhaus-Diakonie bietet in Kirchheim und Nürtingen intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung für straffällig gewordene Jugendliche an. Teamleiter Ahmet Aksu beobachtet, dass die Gewaltbereitschaft bei Minderjährigen zunimmt.
Herr Aksu, wer entscheidet, wer für eine Einzelbetreuung infrage kommt?
Ahmet Aksu: In der Regel ist dies das Jugendamt, das über entsprechende Auflagen entscheidet. Das können abzuleistende Sozialstunden sein, eine Drogen- und Suchtberatung oder eben eine Intensivbetreuung. Wir haben eine Zusatzqualifikation als Anti-Aggressivitäts-Trainer, was ein Schlüssel ist in unserer Arbeit. Es geht aber auch um praktische Unterstützung im Alltag, beispielsweise bei Behördengängen oder bei der Erfüllung von Bewährungsauflagen. Wir wollen zugeschnittene Hilfen im Einzelfall anbieten.
Mit welcher Altersgruppe haben Sie vorwiegend zu tun?
In der Regel sind das Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die meist schon häufiger straffällig geworden sind, aber auch solche, die erst Gefahr laufen, auf eine kriminelle Karriere zuzusteuern.
Polizei und Staatsanwaltschaften berichten von zunehmender Gewaltbereitschaft unter Minderjährigen. Können Sie das bestätigen?
Das nehmen wir tatsächlich auch wahr. Die Gewaltbereitschaft nimmt insofern zu, als die Gewalt massiver ausgeprägt ist. Man schreckt nicht mehr davor zurück – vor allem in der Gruppe –, Körperverletzungen zu begehen, die einem einzelnen Opfer schweren Schaden zufügen. Ja, die Täter werden jünger und ja, die Schwere der zugefügten Verletzungen nimmt zu. Das ist leider zu beobachten. Besorgniserregend ist vor allem, dass die Zahl der Messerangriffe in den vergangenen zwei Jahren gestiegen ist.
Worauf führen sie diese Entwicklung zurück?
Oft ist es ein Sammelsurium von Gründen. Dabei spielen die Sozialisationserfahrungen, die Brüche in einer Lebensbiografie, das familiäre Umfeld und Milieu, aber häufig auch eigene Gewalterfahrungen eine große Rolle. Die Pandemie mit allen Folgen hatte sicherlich auch einen Anteil. Man kann das nicht an einem Faktor festmachen.
Wie erreichen Sie Ihre Klientel? So, dass man Ihnen zuhört und Sie ernst nimmt.
Indem man die Jungs in ihrer Lebenswelt abholt. Unsere Lebenswelt ist nicht eure, das ist ein Satz, den wir fast immer zu hören bekommen. Das ist ihre Wahrnehmung in der Subkultur, in der sie sich bewegen. Die meisten haben schon jegliche Systeme und Konzepte gesprengt und entziehen sich jeglicher Verantwortung oder verweigern Unterstützung. Sehr viele haben auch selbst schon eine Menge Gewalt erfahren. Deshalb geht es erst mal darum, Basisvertrauen aufzubauen, um dann ihre eigenen Ressourcen zu aktivieren im Hinblick auf ein verantwortungsvolles Verhalten sich selbst und der Gesellschaft gegenüber.
Sie reden von Jungs. Ist Jugendkriminalität grundsätzlich männlich?
Unsere Klientel ist ausschließlich männlich, auch wenn wir Mädchen nicht ausschließen. Bei Mädchen geht es häufiger um Delikte wie Sachbeschädigung, Drogen oder schwere Formen von Mobbing, seltener um körperliche Gewalt.
Woran messen Sie Erfolg?
Wir haben alle drei bis sechs Monate ein Hilfeplangespräch, in dem geschaut wird, wie läuft’s, wo stehen wir, welche Ziele sind erreicht, wo müssen wir nachsteuern? Es kann bis zu zwei Jahre dauern, bis ein junger Mensch entsprechende Stabilität aufweist. Ganz wichtig ist dabei die enge Vernetzung mit den sozialen Diensten von Stadt und Kreis und der Jugendgerichtshilfe. Der größte Erfolg ist jedoch grundsätzlich, wenn Jugendliche Woche für Woche zu uns kommen und uns als Ansprechpartner vertrauen. Wenn sie anschließend polizeilich nicht mehr auffällig werden, wenn es gelingt, in Ausbildung, Schulen, Jobs oder in Vereinen zu vermitteln, dann haben wir sehr viel erreicht. Bernd Köble