Mit der Gesetzesänderung, die Besitz, Anbau und Konsum von Cannabis zum April 2024 unter gewissen Voraussetzungen legalisierte, gingen große Erwartungen auf beiden Seiten einher: Kritikerinnen und Kritiker äußerten mitunter Besorgnis über Herausforderungen für die Strafverfolgung und die Sicherheit im Straßenverkehr; Befürworterinnen und Befürworter sahen in dem Beschluss unter anderem eine Möglichkeit, Justiz und Polizei zu entlasten. Doch was hat sich in der Region seit vergangenem Frühjahr tatsächlich getan?
„Die Gesetzesänderung hatte erhebliche Auswirkungen auf die Fallzahlen der Rauschgiftkriminalität“, heißt es im Jahresbericht des Polizeipräsidiums Reutlingen (PPR) für das vergangene Jahr. Daraus geht hervor, dass durch die Teillegalisierung sowohl im gesamten Zuständigkeitsbereich des PPR (-42 Prozent) als auch speziell im Landkreis Esslingen (-48,5 Prozent) die Drogendelikte im Vergleich zum Vorjahr erwartungsgemäß massiv gesunken sind.
Martin Raff von der Polizeistelle Reutlingen weist darauf hin, dass die Zahlen nur „bedingt aussagekräftig“ sind, da Cannabisverstöße bis zum 1. April noch unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) fielen. Wäre die Gesetzesänderung bereits zum Jahreswechsel in Kraft getreten, wäre die Zahl der Rauschgiftdelikte mit hoher Wahrscheinlichkeit noch niedriger gewesen.
In den übrigen neun Monaten, in denen das deutlich schwerer zu brechende Konsumcannabisgesetz griff, wurden im Landkreis Esslingen 97 Verstöße – das sind 15,9 Prozent aller Rauschgiftdelikte in diesem Jahr – registriert. In Kirchheim gab es in diesem Zeitraum lediglich sieben Verstöße gegen das neue Gesetz. Bergab ging die Kurve bei den Drogenstraftaten, bergauf bei den Vorfällen im Straßenverkehr. Denn auch wenn Kiffen jetzt erlaubt ist – bekifft Auto zu fahren ist es nicht. Der neue THC-Grenzwert von 3,5 Nanogramm pro Milliliter Blut kann je nach Person, Menge und Sorte bereits nach ein oder zwei Zügen an einem Joint überschritten sein.
Insgesamt wurden im Zuständigkeitsbereich des PPR im Lauf des vergangenen Jahres beinahe 900 Personen unter Drogeneinfluss am Steuer erwischt – 17,6 Prozent mehr als im Vorjahr. Die deutliche Mehrheit dieser Verstöße (rund 80 Prozent) war auf Cannabis zurückzuführen. Auch die Zahl der Verkehrsunfälle unter Drogen schoss 2024 in die Höhe, was Martin Raff zufolge „auch mit der Teillegalisierung von Cannabis zu erklären“ sein dürfte. Im gesamten Bereich des PPR stiegen die Zahlen um 52,2 Prozent auf 102. Im Landkreis Esslingen war die Differenz zum Vorjahr mit 17 Vorfällen und einem Anstieg um 66,7 Prozent sogar noch größer. In Kirchheim krachte es im letzten Jahr sechs Mal unter Drogeneinfluss (+500 Prozent).
Obwohl die Zahl der Rauschgiftdelikte jetzt deutlich niedriger ist, macht die geänderte Gesetzeslage die Arbeit der Polizei nicht gerade leichter. Wie Udo Vogel, Präsident des PPR, im Vorwort des Kriminalitätsberichts schreibt, stellt die Teillegalisierung von Marihuana die Beamten sowohl in Fragen der Verkehrssicherheit als auch bei Kontrollen und Ermittlungen zur Bekämpfung des illegalen Handels vor neue Herausforderungen.
Martin Raff erklärt, dass die Polizei durch die Entkriminalisierung der Droge deutlich mehr Faktoren, wie etwa die genaue Menge, die Anbaubedingungen, den Konsumort, die Quelle oder die Absicht des Besitzers, berücksichtigen müsse, um zu beurteilen, ob tatsächlich ein Verbrechen begangenen wurde. Die Durchsetzung der geltenden Gesetze sei damit „wesentlich komplexer“ geworden, was für „deutliche Mehraufwände“ bei polizeilichen Ermittlungen sorge.
102
Verkehrsunfälle unter Drogeneinfluss gab es im vergangenen Jahr im gesamten Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Reutlingen.