Beinahe ein Schuljahr ist vergangen, seit manche der 13 Kinder und Jugendlichen, die täglich morgens auf einem Wiesengrundstück in Ötlingen betreut werden, zum letzten Mal eine Schule von innen gesehen haben. Das Projekt, das sich „Lernen im Freien“ nennt und von „Betreuung und Bildung“, einer Firma des Esslingers Matthias Lebschy getragen wird, hat Verbindungen zur Querdenker-Szene. Das Projekt wurde mithilfe einschlägiger Querdenker-Gruppen auf Telegram gegründet und ist auch heute regelmäßig Gegenstand von Posts.
Vordergründig geht es den Machern von „Lernen im Freien“ darum, Kindern, die während der Coronazeit die Lust an Schule verloren haben, ein Hilfsangebot zu machen. Einige hätten sich aufgrund der Maskenpflicht, die sie aus medizinischen oder anderen Gründen nicht erfüllen könnten, oder aufgrund der Testpflicht diskriminiert gefühlt, hatte Heilerziehungspfleger Matthias Lebschy in früheren Interviews gesagt. „Lernen im Freien“ sei keine Ersatzschule, sondern ein sozialpädagogisches Hilfeangebot, in dem Kinder ihre natürlich Lust am Lernen wieder entdecken sollten. Dass Matthias Lebschy außerdem eine alternative Schule gründen will, ist ein offenes Geheimnis. Ein Erfolg dieser Bemühungen gilt jedoch als äußerst unwahrscheinlich.
Mittlerweile gibt Lebschy keine Interviews mehr. Auch die Mitglieder der Ortsgruppe dürfen sich nicht äußern. Warum die Kinder trotz des Wegfalls der Masken- und Testpflicht weiterhin nicht in die Schule gehen können, hatte Lebschy vor einigen Wochen in einem Interview mit der Göppinger NWZ begründet: In der Lebenswelt Familie und Kitas gebe es ausdifferenzierte Sicherungssysteme, wenn es um Kindeswohlgefährdung gehe, so Lebschy. In der Lebenswelt Schule gebe es keine unabhängige Kontrollinstanz. Sprich: Das Kindeswohl ist aus Sicht der Macher von „Lernen im Freien“ weiterhin in Gefahr, auch wenn Tests und Masken abgeschafft sind.
Soweit die Sicht der Freilerner. Der Staat und seine Institutionen sehen die Sache etwas anders, immerhin gilt in Deutschland Schulpflicht. Die Maskenatteste, mit der einige der Eltern die Schul-Abwesenheit ihrer Kinder begründet hatten, haben ihre Gültigkeit verloren. Mittlerweile seien jedoch andere Atteste vorgelegt worden, die den Kindern hauptsächlich aus psychischen Gründen bescheinigten, nicht am Unterricht teilnehmen zu können, heißt es aus dem Schulamt Nürtingen. Einige davon stammten von Kirchheimer Ärzten. Wie viele Eltern Atteste vorlegen können und damit aus dem Schneider sind, und wie viele aufgrund von Schulabsentismus Ordnungsgelder bezahlen müssen, ist nicht überprüfbar. Im Gesamten seien einige Kinder und Jugendliche zurückgekehrt, sagt Schulamtsdirektorin Dr. Corina Schimitzek. Ob es sich dabei auch um Kinder handelt, die bei „Lernen im Freien“ betreut wurden, sagt sie nicht.
Abseits aller Diskussionen um die Schulpflicht liegt die Ortsgruppe von „Lernen im Freien“ mit der Stadt und dem Landkreis im Clinch. Die Baurechtsbehörde hatte bereits im Dezember festgestellt, dass auf dem Wiesengrundstück unter anderem ein Zelt, eine Holzhütte und ein Klohäuschen aufgestellt worden waren. Weil auf Wiesengrundstücken dieser Art allenfalls kleine Gerätehütten errichtet werden dürfen, wurde die Eigentümerin aufgefordert, alles zu entfernen. Parallel dazu hatte der Landkreis Esslingen als Naturschutzbehörde die Eigentümerin angewiesen, das Grundstück in seinen natürlichen Zustand zurückzuversetzen. Begründung: Die Lage im Landschaftsschutzgebiet.
Das Zelt ist zwar laut Stadt abgebaut worden, aber sonst gar nichts. Im Gegenteil: Weitere „bauliche Anlagen“ seien dazugekommen. Beobachter sprechen von einer Holzhütte, die sich aktuell im Bau befindet. „Da eine Räumung auf freiwilliger Basis offenbar nicht erfolgen wird, wurde nun ein baurechtlicher Bescheid zugestellt“, sagt Stadt-Sprecher Robert Berndt. Darin steht noch einmal, dass alles, was gebaut wurde, entfernt werden muss. Verbunden ist der Bescheid mit Gebühren in niedriger dreistelliger Höhe. „Sollte der Beseitigungsanordnung nicht fristgerecht nachgekommen werden, wurde gleichzeitig zur Durchsetzung ein Zwangsgeld – ein niedriger, vierstelliger Betrag – angekündigt“, so Berndt. Gegen den Bescheid kann innerhalb eines Monats Widerspruch erhoben werden.
Passiert dann immer noch nichts, geht das Ganze laut Stadt voraussichtlich ans Regierungspräsidium und anschließend gegebenenfalls vor ein Verwaltungsgericht. „Eine Räumung durch die Stadt ist erst möglich, wenn wirklich alle Mittel ausgeschöpft sind und liegt aktuell also noch in weiter Ferne“, so Robert Berndt. Eins steht heute schon fest: Die Kinder werden auch weiterhin so schnell keine Schule von innen sehen.