Kirchheim. „Hallo, Frau Rott!“ Mit einem strahlenden Lächeln schießt Amelie um die Ecke ins Klassenzimmer und lässt sich als Erste in die Stuhlreihe vor der Tafel plumpsen. Christel Rott, die Lehrerin der Leseklasse, grüßt ihre Schülerin freudig. Sie wartet geduldig, bis auch die letzten eingetroffen sind und ruhig auf ihren Stühlen sitzen.
Dann beginnt sie die Hände zu bewegen und Zeichen zu formen, die an Gebärdensprache erinnern. Kaum ruhen ihre Hände, schnellen die Kinderarme nach oben. „Baum!“, ruft ein Junge aufgeregt das Wort, das Christel Rott mit ihren Gesten buchstabiert hat. Plötzlich scheinen die Rollen vertauscht: Sind es normalerweise die Kinder der Leseklassen, denen es schwerfällt, zu lesen, schreiben und den Unterricht zu verstehen, ist es jetzt genau andersherum. Während Ausstehende nur Bahnhof verstehen, wissen die Schüler genau, was ihre Lehrerin sagen möchte. Christel Rott hat ihre „Geheimsprache“ verwendet, mit der die Kinder noch einmal ganz neu beginnen, lesen zu lernen.
„Bei unserer Geheimsprache ist es wissenschaftlich nicht bewiesen, dass sie einen Effekt hat – aber für unsere Kinder ist sie etwas ganz Besonderes und Motivierendes“, erzählt Christel Rott, die schon seit 2004 eine Leseklasse leitet. Bei der Lautgebärde gibt es für jeden Buchstaben, aber auch für Endungen wie „en“ und „er“ verschiedene Zeichen. Daneben hilft es den Kindern, beim Sprechen der Wörter mit den Armen die Silben mitzuschwingen.
Heute übt die Klasse fleißig Plurale. Bei Wörtern wie „Bäume“ oder „Gläser“ muss aufgepasst werden, „äu“ nicht mit „eu“ und „ä“ nicht mit „e“ zu verwechseln. „Die Mädchen und Jungen kommen mit null Leseverständnis hier her“, sagt Christel Rott. „Es ist eine Riesenarbeit, ihr Selbstwertgefühl wieder aufzubauen.“ Denn wenn die Kinder für zwei Jahre in die Leseklassen kommen, sind sie von der Schule gefrustet. „Sie sind unmotiviert, weil sie in der normalen Schule nicht mithalten konnten, und deswegen oft depressiv“, meint Rott. Dabei seien viele Schüler durchaus sehr begabt. Ihre Probleme liegen nur bei den Buchstaben: Sie mischen sie durcheinander, können keine Silben erkennen oder haben Schwierigkeiten, ähnliche Konsonanten wie „g“ und „k“ zu unterscheiden.
Gegen das Lesen hätten die Schüler dann anfangs so eine Abneigung, dass sie kaum ein Buch in die Hand nehmen möchten. „Anfangs gucken die Kinder manchmal die Bilder an, und tun so als würden sie lesen, indem sie erzählen, was darauf ist“, schmunzelt die Lehrerin. Je mehr Zeit jedoch in den Leseklassen vergeht, desto selbstbewusster und glücklicher werden die Schüler. Sie erfahren meist zum ersten Mal, dass Lernen auch Spaß machen kann. „Es ist so ein Glück, diese Entwicklung mitzuerleben“, schwärmt Christel Rott.
Die Motivation der Kinder ist auch zu spüren, als sie das Ein-Minuten-Diktat eröffnet. Sie spricht ihnen ein Wort vor, das diese dann in ihr Heft übertragen. Das Besondere daran: Die Lehrerin versucht währenddessen, sie abzulenken, tippt sie an, ruft ihnen zu, raschelt mit Papier. Die Schreiberlinge müssen aber jede Ablenkung ignorieren und ungerührt weitermachen, was ihnen allen Tricks der Lehrerin zum Trotz gelingt. „Diese Übung lehrt, sich zu konzentrieren“, erzählt die Lehrerin Sabine Ottmüller, die die jüngere Leseklasse unterrichtet. „Denn in den früheren Schulen haben sich die Kinder oft anderweitig beschäftigt und sind abgetaucht.“ Jetzt aber müssten sie wieder lernen, dass sie im Unterricht gefragt sind.
Anschließend lesen sich beide Leseklassen einander vor. Die Zweiergrüppchen kuscheln sich auf Sesseln nebeneinander, setzen sich auf Fensterbänke oder ganz ungezwungen auf den Teppich. Die Luft füllt sich mit konzentriertem Flüstern und Seitenrascheln, und die Lehrerinnen sind sichtlich stolz auf ihre Schützlinge. Was sie jedoch traurig stimmt, ist die Tatsache, dass es viel zu wenig Fördermaßnahmen gibt. Auch die Leseklasse in Kirchheim kämpft Jahr für Jahr um ihr Überleben und muss mit minimaler Unterstützung auskommen. Manche Eltern könnten ihr Kind nicht jeden Tag nach Kirchheim fahren, um ihnen die Teilnahme zu ermöglichen, erzählt Ottmüller. Wenn das Kind jedoch nicht unterstützt wird, droht ihm das Schicksal, nie richtig lesen und schreiben zu lernen. „Es gibt 7,5 Millionen funktionale Analphabeten“, sagt Rott, „warum tut man also nicht schon bei den Kindern mehr, dass es gar nicht zu so einer hohen Zahl kommt? Das ist ein Armutszeugnis für das reiche Baden-Württemberg.“