Kirchheim
Lesung in der Stadtbücherei Kirchheim: Rolf-Bernhard Essig erinnert an seinen Großvater

Lesung Rolf-Bernhard Essig stellt in der Stadtbücherei den „verbrannten“ Schriftsteller Hermann Essig vor. Von Ulrich Staehle

Rolf-Bernhard Essigs Präsentation in der Kirchheimer Stadtbücherei war überwältigend. Foto: Markus Brändli

Kirchheim. Am 10. Mai findet jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung des Literaturbeirats statt. An diesem Tag hat 1933 an den meisten deutschen Universitäten eine Verbrennung „entarteter Literatur“ stattgefunden – ein barbarischer Akt, der sich nicht wiederholen darf. Dieses Jahr bekam die Gedenkveranstaltung in der Stadtbücherei eine ganz besonders persönliche Note: Gastgeberin Stefanie Schwarzenbek konnte Rolf-Bernhard Essig begrüßen, der die Erinnerung an seinen Großvater Hermann Essig auffrischte, dessen Werke damals verbrannt wurden.

Dieser Enkel ist dieses Jahr im literarischen Leben Kirchheims sowieso höchst präsent: Hat er doch als Spezialist für Redensarten die Ausstellung „Nicht mit dem Latein am Ende“ kuratiert und darüber einen eindrücklichen Vortrag „Phönix aus der Asche“ gehalten. Jetzt ging es nicht um Redensarten, sondern um die Bücherverbrennung.

Schon früher wurden missliebige Schriften zerstört

Er erinnerte daran, dass die Vernichtung von schriftlichen Zeugnissen eine unrühmliche Tradition hat. Schon in frühen Kulturen wurden missliebige Schriften zerstört, wenn es sein musste sogar mit Hammer und Meißel. Essig stellte in dem aktuellen Fall klar, dass die Nazis die Bücherverbrennung nicht initiiert haben, sondern eine Strömung in der Studentenbewegung erst aufgenommen haben, als sie erfolgversprechend war. Dann wurde aber kräftig zugelangt: die Namen von 174 Autoren kamen auf den Index. Einer davon war Großvater Hermann Essig.

Der Enkel Rolf-Bernhard Essig betonte, dass es sich nur um seinen „biologischen“ Großvater handelt. Er kam 45 Jahre nach dessen Tod zur Welt. Doch er nimmt für sich in Anspruch, dass er ihn besser kennt als manche, die ihre Großväter persönlich erlebt haben, vor allem durch seine Beschäftigung mit ihm seit 1980 innerhalb seines Germanistikstudiums.

Aufgewachsen in einer ländlichen Idylle

Hermann Essig ist 1878 im heutigen Albstadt als sechstes Kind einer Pfarrersfamilie geboren. Er wächst in einer ländlichen Idylle und in einer erstaunlich liberalen Atmosphäre auf. Sein Plan, Ingenieur zu werden, scheitert wegen einer Lungenerkrankung. Er entscheidet sich für eine Schriftstellerlaufbahn und siedelt nach Berlin über. Die ersten Werke sind von seiner konservativen Grundeinstellung geprägt und haben wenig Erfolg. Seine vermögende Frau hält ihn finanziell über Wasser, schließlich wird er bekannt und gewinnt sogar den Kleistpreis. Überraschend wird er in die Künstlergruppe „Der Sturm“ aufgenommen, eine Gruppe expressionistischer Künstler, die sich mit Ausstellungen und einer Zeitschrift der Moderne verschrieben haben. Die Moderne ist durch abstrakte Kunst verschiedener Ausprägung gekennzeichnet.

1917 wird Hermann Essig wegen seinen Gesundheitsproblemen vom Kriegsdienst freigestellt und kann einen Roman schreiben. Er bekommt noch mit, dass der Roman verlegt wird, stirbt aber kurz darauf. „Der Taifun“ erscheint 1919 und wird ein Erfolg. Der Titel ist ein Deckname für „Der Sturm“. Der Text ist eine beißende Satire auf diesen Künstlerbund und sein Gehabe. Noch brisanter wird er dadurch, dass er ein Schlüsselroman ist. Unschwer ist in der Romanfigur „Ganswind“ Herwarth Walden, der Gründer und Mittelpunkt der Gruppe zu erkennen, und in „Hermione“ seine Frau Nell Roslund. Der Enkel las aus dem Roman eine längere Passage vor. Die Zuhörer bekamen einen Eindruck von dem am Expressionismus orientierten Sprachstil des Erzählers und vom überspannten künstlerischen Getue angesichts abstrakter Gemälde, das als Geschäftemacherei demaskiert wird. Die Künstlergruppe wurde von den Nazis 1932 aufgelöst.

Warum wurde Hermann Essigs Literatur verbrannt, obwohl er eine konservative Grundeinstellung hatte und in „Der Taifun“ so satirisch mit der modernen Kunst umgesprungen ist? Der Enkel erinnerte daran, dass sein Großvater schon immer angeeckt hatte und als „Liebling der Zensur“ galt. Vor allem seine derbe „tierische“ Einstellung zur Sexualität, die er vom Landleben mitgebracht hat, stieß auf Ablehnung.

Steigt der verbrannte Autor wie Phönix aus der Asche wieder auf? Auf dem Theater war er nie ganz verschwunden. Vor allem war es Friedrich Schirmer, scheidender Intendant der WLB Esslingen, der die Volksstücke wie die „Glückskuh“ auf die Bühne brachte. Auf dem Gebiet des Romans hat der Enkel das Bestmögliche getan: 1997 gab er den „Taifun“ wieder heraus. Obwohl es ein zeitgebundener Schlüsselroman ist, betrachtet er in seinem Nachwort die Chance einer Akzeptanz in der heutigen Zeit als „nicht schlecht“, da er erstaunlich viel Aktuelles biete.

Rolf- Bernhard Essigs Präsentation war überwältigend. Mehr als eine Stunde bot er stehend, in lebendigem Kontakt mit dem Publikum den vielschichtigen Stoff druckreif in freier Rede- und das trotz einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, wie er am Schluss verriet.