Die Vorfreude war da: Jo van Nelsen hat vor genau einem Jahr in der Reihe „Texte und Töne“ mit seiner Grammofonlesung Tucholsky eindrücklich in Erinnerung gebracht. Bibliotheksleiterin Carola Abraham hat ihn gleich wieder engagiert zum diesjährigen Thema „Reisen“. Nun ist der Künstler wieder da, um mit seinem Grammofon einen heute weniger bekannten, aber zu seiner Zeit wegen seiner Vielseitigkeit populären Schriftsteller lebendig werden zu lassen: Otto Julius Bierbaum.
Bierbaum bekam von seinem Verleger 1902 ein Automobil gesponsert mit dem Auftrag, eine Reise nach Italien zu machen und von den einzelnen Stationen zu berichten. Die Reiseberichte fanden in der Heimat so großen Anklang, dass Bierbaum sie ein Jahr später als Buch herausgab.
Eine Reise nach Italien mit dem Auto – was gibt es Alltäglicheres? Jo van Nelsen entführte das Publikum allerdings in das Jahr 1902. Das Auto hieß damals noch Automobil oder „Laufwagen“. Eine Fahrt nach Italien war zu dieser Zeit eine wahre Pioniertat und dauerte drei Monate. Bierbaum bekam für seine Reise einen „Phaeton“ der Firma Adler, die eigentlich Schreibmaschinen herstellte. Der Motor besaß einen Zylinder und 8 PS. Höchstgeschwindigkeit: 40 Kilometer pro Stunde. Van Nelsen zeigte anhand von Projektionen diesen offenen Wagen und führte die Ausstattung der Reisenden vor, zu der beispielsweise eine Schutzbrille gehörte. Bierbaum wurde von seiner aus Italien stammenden Frau Gemma und dem Chauffeur Riegel begleitet. Gemma konnte dolmetschen und Riegel machte sich nicht nur gut hinterm Steuer, sondern war auch Mechaniker.
Die Zuhörer wurden von van Nelsen auf die Reise durch eine ausführliche Geschichte des Grammofons, dem Spezifikum seiner Lesungen, vorbereitet. Van Nelsen verriet: Bei der Auswahl der Textproben waren die „Merkwürdigkeiten“ ausschlaggebend – nicht die kulturellen Erlebnisse. Deshalb hat der Aufenthalt in Rom in van Nelsens Auswahl keinen Platz. „Merkwürdigkeiten“ sind vor allem die vielen Pannen, die der tüchtige Fahrer Riegel behob, und platte Reifen, mit denen die Reisenden zu kämpfen hatten. Übrigens: Die Reifen hießen damals Pneumatik und Benzin gab es in Apotheken.
„Merkwürdiges“ im Vordergrund
Die Route ging von Berlin nach Dresden, durch das heutige Tschechien nach Wien, Salzburg, München – und über den Brenner nach Venedig, San Marino und Florenz bis hinunter nach Neapel und Capri. Der Rückweg führte über den Gotthardpass, der zum ersten Mal von einem Auto bezwungen wurde, nach Stein am Rhein. „Merkwürdig“ waren auch die Reaktionen der Menschen dieser verschiedenen Länder auf dieses neue Vehikel der Fortbewegung und die Reaktionen der Reisenden auf das, was sie sahen und erlebten. Bierbaum regte sich heftig über die Feigenblattaktion bei den nackten Männerstatuen in Florenz auf, ebenso über bornierte und bürokratische Schweizer. Er entschärfte diese Passagen aber durch seinen kabarettistischen und selbstironischen Stil.
Kulturhistorisch interessant und geradezu amüsant war, wie Bierbaum die Vorteile des Autos gegenüber der Eisenbahn pries, die viel zu schnell durch die Gegend raste und viel umständlicher war. Er schwärmte von einem „empfindsamen“, gemächlichen Reisen mit dem Auto, das nicht über 20 Kilometer pro Stunde hinausging. Er schwärmte von der Einsamkeit des Autofahrers. Zur empfindsamen Reise gehört bei ihm auch schon die Ablehnung der Fremdenindustrie. Ihn stört schon der „Lärm“ des nächtlichen Gesangs der Gondoliere in Venedig.
Die Textausschnitte las van Nelsen mit gewohnter Professionalität, untermalt von zeitgenössischer Unterhaltungsmusik, vorrangig von Paul Lincke, abgespielt von Schellackplatten auf einem originalen Koffergrammofon. Die Schauplätze waren durch Bildprojektionen illustriert.