Kirchheim
Lesung von Christine Lehmann: Eine Frau bekommt ihre Würde

Lesung Christine Lehmann stellt auf Einladung des Kirchheimer Literaturbeirats ihren Roman „Und jetzt ist Schluss“ im Max-Eyth-Haus vor. Von Ulrich Staehle

In diesem Roman ist eine Frau soeben verstorben. Auf dem Totenbett kriegt sie trotzdem mit, was mit ihr passiert und schaut auf ihr Leben zurück. Aber so etwas gibt es doch nicht! Doch! Eine Autorin ist allmächtig und kann so etwas erfinden. Die Autorin heißt Christine Lehmann, ist 1958 geboren und hat eine reichhaltige Vita: Studium der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft, Redakteurin beim SWR, Autorin von Kurzkrimis und Unterhaltungsromanen, Stadträtin der Grünen in Stutt­gart. 2022 erschien ihr Roman „Und jetzt ist Schluss“. In einer Matinee am Totensonntag konnte Stefanie Schwarzenbek vom Literaturbeirat im Max-Eyth-Haus die vielbeschäftigte Frau zu einer Lesung begrüßen.

Die eigene Familiengeschichte

Christine Lehmann legte gleich mit dem ersten Kapitel los, dem Zeitpunkt des Todes von Ruth Winkler. Die Tote erlebt nicht nur die letzten Besuche ihrer Angehörigen wie den der Tochter Hanna, sondern erinnert sich an den Tod ihres Mannes Markus und anderer Familienmitglieder. Die Autorin verrät, dass es sich bei dieser Familiengeschichte um ihre eigene Familie handelt mit verschlüsselten Namen.

Auf die Idee, den Werdegang ihrer Mutter zu erzählen, sei sie gekommen, weil sie nach dem Tod ihrer Mutter eine Fülle von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen gefunden habe, die eine Rekonstruktion dieses Lebens ermöglichten. So ist eine fiktive Bio­grafie entstanden, basierend auf handfestem authentischem Material und nicht auf trügerischen Erinnerungen wie geläufige Biografien. Sie verrät auch, dass hinter Hanna, der ersten Tochter Ruths, sie selbst steckt. So verbirgt sich in der Biografie der Mutter auch eine Autobiografie der Autorin.

Bei den Textproben konzentrierte sich Christine Lehmann auf den Ehemann Markus, die Töchter Hanna und Eva und die Verwandtschaft in der DDR. Als roter Faden zieht sich durch die Familiengeschichte das Los der Frauen: „Sie haben es nicht ausgehalten an der Seite ihrer selbstsüchtigen Männer.“ Obwohl es Ruth Winkler trotz widriger Bedingungen bis zur Promotion bei Volker Klotz an der Stuttgarter Uni gebracht hat, ist sie nicht selbstbewusst und in ihren Entscheidungen unsicher. Sie ist, wie Hanna bei der Beerdigung sagt, „ein wenig verschwunden hinter ihrem Mann“, der viel mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand. Damit ist jetzt Schluss. Man vergleiche die Lebensleistung von Christine Lehmann alias Hanna.

Der Roman füllt aber über 500 Seiten. Da werden an Schicksale und Lebensläufe auch der weiteren Verwandtschaft dieser gro­ßen Familie und von Freundinnen und Freunden erinnert, an Fromme, Mutige, Mitläufer, Nazis und Sonstige. Die Autorin hat ein ausführliches Personenregister mitgeliefert, das die Leserin und der Leser dringend benötigen. Das Thema, dass den Frauen nicht die nötige Würde zukommt, bleibt bestimmend.

Sichtbar wird bei den Biografien auch die Geschichte der beiden deutschen Staaten seit etwa 70 Jahren. Historische Ereignisse und die damit verbundenen Probleme wie der Mauerbau, die Hamburger Sturmflut, die Wiedervereinigung oder Brandts Kniefall werden eindrücklich in die Familiengeschichte miteingeflochten.

Beim abschließenden Gespräch stellte eine Zuhörerin fest, dass es in Zukunft nicht mehr möglich sein wird, eine Biografie zu schreiben, die auf Aufzeichnungen und Briefen beruht. Recht hat sie. Eine Briefkultur gibt es nicht mehr.