Die Welt stand still, als bewaffnete Hamas-Kämpfer am 7. Oktober 2023 in Israel einfielen und dort mindestens 1200 Menschen ermordeten. Israel schlug zurück – mit voller Gewalt. Nun, mehr als anderthalb Jahre nach dem Massaker, artete der Konflikt zu einem militärischen Schlagabtausch zwischen Israel, dem Iran und den Vereinigten Staaten aus.
Für ein oder zwei Tage haben wir Israelis gefühlt, was die Palästinenser seit 77 Jahren fühlen: die Angst um die eigene Existenz.
Amos Gwirtz, israelischer Friedens- und Menschenrechtsaktivist
„Wir sind seit dem 7. Oktober 2023 Zeugen einer ständigen Eskalation der Konflikte im Nahen Osten“, äußerte Karl-Heinz Wiest von der Kirchheimer Gruppe der ökumenischen Friedensbewegung Pax Christi. Auf Einladung der Gruppe hat sich der israelische Friedens- und Menschenrechtsaktivist Amos Gwirtz bei einem Treffen im katholischen Gemeindehaus St. Ulrich online aus Tel Aviv zugeschaltet, um über die aktuelle politische und humanitäre Situation vor Ort zu berichten.

Lektionen der Vergangenheit
Seinen Vortrag begann der gebürtige Israeli mit der Bemerkung, dass niemand gefragt wurde, wann und in welchem Land er in welche Familie hineingeboren werden wolle. Die moralische Frage, die sich jeder stellen müsse, sei, ob und wie man die eigenen Entscheidungen rechtfertigen könne, wenn man sich selbst plötzlich als Teil der „anderen Seite“ wiederfände.
An dieser Stelle verwies Amos Gwirtz auf die Erkenntnisse, die man aus dem Zweiten Weltkrieg gewonnen habe – speziell: die vier Genfer Konventionen, die auf der Basis dieser Erkenntnisse verabschiedet wurden. Die israelische Regierung, so Gwirtz, handle entgegen diesen Konventionen. „Das Ergebnis ist, dass Israel, der Staat der Überlebenden des Holocausts, systematisch entgegen den Lektionen aus dem Zweiten Weltkrieg handelt.“
Am israelischen Staatsoberhaupt Benjamin Netanjahu übte der jüdische Pazifist scharfe Kritik: Der Ministerpräsident sei ein korrupter Anführer, der bereit sei, alles zu tun, um an der Macht zu bleiben. Um sich die nötige Mehrheit im israelischen Parlament, der Knesset, zu sichern und seine Machtposition zu halten, habe Netanjahu die Kahanisten – Unterstützer der ultranationalistischen, rassistischen und antidemokratischen Ideologie des Rabbiners Meir Kahane – legitimiert und sei nun komplett von ihnen abhängig. Diese messianischen Fanatiker, die nun in der israelischen Regierung säßen, seien laut Gwirtz mit den Menschen gleichzusetzen, die man im europäischen Sprachgebrauch Neonazis nennt.
Die finale Lösung
„Ein großer Schock“ – so beschreibt Amos Gwirtz die Wirkung des Angriffs am 7. Oktober 2023 auf das israelische Volk. Obwohl der Staat Israel aus rationaler Perspektive nicht gefährdet gewesen sei, sei der Überraschungsangriff für die Israelis „ein Trauma“ gewesen. Er setzt hinzu: „Für ein oder zwei Tage haben wir Israelis gefühlt, was die Palästinenser seit 77 Jahren fühlen: die Angst um die eigene Existenz.“
Die Antwort Israels, so Gwirtz, sei „äußerst brutal“ gewesen. Dabei werde das militärische Vorgehen des Staats kontinuierlich durch die messianischen Fanatiker beeinflusst, die unter dem Deckmantel der Rache ihre eigenen Ziele – die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza – verfolgen würden. „Es gibt aber keinen Ort, an den sie vertrieben werden können“, argumentiert Amos Gwirtz. Aus der Geschichte wisse man, dass der nächste und finale Schritt, der auf einen gescheiterten Vertreibungsversuch folge, ein Völkermord sei. „Das ist es, was aktuell in Gaza geschieht.“
Die israelischen Medien erzählen den Israelis, sie seien die Opfer.
Amos Gwirtz, israelischer Friedens- und Menschenrechtsaktivist
Die meisten Menschen, so Amos Gwirtz, hätten ihre Häuser verloren. Ganze Nachbarschaften und Städte in Gaza seien dem Erdboden gleichgemacht worden. „Es ist extrem dreckig, es ist extrem bedrängt, es gibt nicht genug Wasser, es gibt nicht genug Essen und dafür schreckliche Krankheiten.“ Der Menschenrechtsaktivist verweist auf die geschätzten 55.000 bis 65.000 Palästinenser, die Berichten zufolge seit dem 7. Oktober 2023 durch Bomben und Schüsse ums Leben gekommen sind. Was ihm fehle, seien Statistiken darüber, wie viele Menschen in Gaza durch Hunger, Durst und Krankheiten gestorben sind. „Ich kenne die genaue Anzahl nicht“, so Gwirtz. „Ich glaube aber, dass es weit mehr als 55.000 oder 65.000 sind.“
Über die Kriegsverbrechen, die Israel in Gaza, im Westjordanland und im Negev begehe, seien die meisten Israelis nicht informiert, wie Amos Gwirtz berichtet. Stattdessen werde in den Medien wieder und wieder über das Massaker am 7. Oktober berichtet. „Die israelischen Medien erzählen den Israelis, sie seien die Opfer“, erklärt der Aktivist. Er ist überzeugt, dass lediglich starker Druck und Kritik vonseiten anderer Nationen Israel dazu bringen könne, dem Krieg ein Ende zu setzen.
Die Zukunftsängste sind groß
In der anschließenden Fragerunde, in der die Gäste die Möglichkeit hatten, sich direkt an Amos Gwirtz zu wenden, erkundigte sich einer der Zuschauer unter anderem nach der Reaktion des israelischen Volkes auf den Angriff gegen den Iran.
Amos Gwirtz entgegnete, dass der militärische Schlag vom Großteil der Israelis unterstützt und als „sehr erfolgreich“ betrachtet werde. „Was sie nicht verstehen, ist, dass diese Attacke viel zu spät kam“, schätzt der Pazifist. Er teilt die Ansicht, dass der Iran nicht im Besitz nuklearer Waffen sein sollte. Die Frage sei vielmehr, wie man das verhindern könne. Dass Netanjahu den US-Präsidenten Donald Trump dazu brachte, aus dem Atomabkommen mit dem Iran auszusteigen, bezeichnet Gwirtz als „schwerwiegenden strategischen Misserfolg“, der dazu geführt habe, dass der Iran den Status eines nuklearen Schwellenstaats erreichen konnte.
Er befürchtet, dass auch durch die amerikanischen Bomben nicht mehr verhindert werden könne, dass der Iran an ein nukleares Arsenal gelangt. Amos Gwirtz ergänzt, er habe „große Angst“, dass dies den Iran noch motivieren könne, es Nordkorea gleich zu tun und die nukleare Schwelle zu überschreiten. „Das wäre ein Albtraum – nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt.“
Wichtige Ereignisse seit dem Hamas-Angriff
Am 7. Oktober 2023 attackieren die Hamas im Süden Israels, töten mehr als 1200 Menschen und nehmen rund 250 Geiseln.
Im Anschluss erklärt Israel den Kriegszustand und startet eine massive Militärkampagne in Gaza.
Am 13. April 2024 feuert der Iran hunderte Drohnen und Raketen auf Israel. Der Großteil kann abgefangen werden.
Am 19. April führt Israel als Vergeltung einen gezielten Angriff im Iran durch.
Die Vereinigten Staaten verstärken über das Frühjahr ihre Beteiligung.
Am 13. Juni greift Israel drei iranische Nuklearstandorte an.
Am 22. Juni führen die USA ebenfalls Luftschläge durch.
Am 23. Juni antwortet der Iran mit Angriffen auf einen US-Militärstützpunkt in Katar.
Am 24. Juni tritt eine brüchige Waffenruhe zwischen Israel und Iran in Kraft. Beide Seiten werfen einander kurz darauf Brüche vor.
Zum jetzigen Stand herrscht ein instabiler Waffenstillstand zwischen Israel und dem Iran.