Gesundheit
Mehr Telemedizin und Lenkung statt direkt in die Notfallpraxis

Doris Reinhardt, zweite Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in Baden-Württemberg, erklärt in Kirchheim die Schließung der Bereitschaftspraxis und fordert einen Mentalitätswechsel.

Dr. Dorist Reinhardt von der Kassenärztlcihen Vereinigung Baden-Württemberg sprach in Kirchheim. Links: Sprecher Kai Sonntag. Foto: Thomas Zapp

Kirchheim. Dr. Doris Reinhardt hat aktuell kine angenehme Aufgabe. Die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg befindet sich auf einer Art Roadshow durch Baden-Württemberg, um die Streichung von insgesamt 18 Notfallpraxen an den jeweiligen Standorten zu erklären. Das kann mal vor 1000 emotional geladenen Zuhörerinnen und Zuhörern auf der Schwäbischen Alb in Münsingen sein, wie der SPD-Landtagsabgeordnete Anne Kenner erzählt. Oder eben auch vor 40 Menschen in eher gediegener Atmosphäre im Alten Gemeindehaus in Kirchheim.

In der Teckstadt weist Oberbürgermeister Dr. Pascal Bader die Bezeichnung „Grußwort“ zwar zurück. Schließlich läuft eine Klage der Stadt Kirchheim beim Sozialgericht gegen die für den 31. März geplante Schließung der Notfallpraxis in Kirchheim. Er hat jedoch das erste Wort an diesem Abend und bleibt sachlich: Bader äußert die Sorge, dass die Zentrale Notaufnahme an der Medius-Klinik überrannt wird, wenn die Menschen keine Anlaufstelle mehr in der Notfallpraxis haben. Dennoch wolle man den Wandel begleiten, wenn es nicht verhindert werden kann. 

Auch Anne Kenner ist da. Der SPD-Landtagsabgeordnete hat mit seiner Fraktion einen Antrag zum Erhalt der Notfallpraxen eingereicht – und ist gescheitert. Trotz dieser Vorzeichen herrscht dennoch eine wohlwollende Atmosphäre in Kirchheim.

Doris Reinhardt trägt ihren Teil dazu bei und lobt erst mal die gute hausärztliche Versorgung in Kirchheim, um dann das System des Bereitschaftsdienstes und der Bereitschaftspraxen an den Kliniken am Wochenende zu erklären. „Dahin geht man, wenn man sonst unter der Woche zum Hausarzt gehen würde“, erklärt sie.

 

Wichtiger: Praxen besetzen

Die KVBW hat für den Abend ein Interviewformat gewählt: „Warum schließen Sie 18 Bereitschaftspraxen?“, fragt Sprecher Kai Sonntag die zweite Vorsitzende. „Unser Hauptgeschäft ist es, Praxen zu besetzen“, betont diese. Und aktuell fehlten die, 15 in Nürtingen, 32 in Esslingen, landesweit fast 1000.

Statt der früheren Ärzteschwemme gebe es jetzt weniger. Und denen sei es wichtig, die Dienstbelastung gering zu halten: „Nacht- und Bereitschaftsdienste sind heute nicht mehr so akzeptiert.“ Das liege auch an der zunehmenden Zahl von Ärztinnen, die Beruf und Familie verbinden wollten. „Damit wir die hausärztliche Versorgung in Baden-Württemberg sicherstellen können, muten wir Leuten zu, woanders hinzufahren“, sagt Doris Reinhardt. In jedem Landkreis müsse es mindestens eine Bereitschaftspraxis am Krankenhaus geben, in Esslingen seien es mit Esslingen und Nürtingen sogar zwei. „Maßgabe ist: In 30 Minuten müssen 95 Prozent der Patienten dort sein können.“

Künftig werden diejenigen, die bislang in Kirchheim den Dienst in Anspruch genommen haben, nach Nürtingen fahren müssen. Es lägen überall Flyer aus, auch Plakate werden ausgehängt. Man geht davon aus, dass die Leute sich daran gewöhnen werden. „Da geht man ja auch nicht jede Woche hin, sondern höchstens ein paar Mal im Jahr“, sagt sie. Das Personal in Nürtingen wird erhöht und die dortigen Öffnungszeiten am Wochenende werden erweitert. Von bisher 10 bis 16 Uhr in Kirchheim auf 9 bis 19 Uhr in Nürtingen. Mit einer Überlappung von zwei Diensten von 11 bis 14 Uhr. 

 

Vieles am Telefon klären

Wichtig ist ihr dabei die richtige Patientenlenkung am Bereitschaftstelefon 116 117. „Das ist auch im Interesse der Patienten. Wenn Sie als Nicht-Schwerkranker in der Notaufnahme sitzen, warten Sie Stunden“, warnt sie vor einem Ausweichen auf die Notaufnahme. Was ebenfalls ausgebaut werden soll, sei die Telemedizin – die Beratung per Telefon. Ebenfalls über die 116 177 sollten Patienten verstärkt an die telefonische Beratung verwiesen werden. Das sei in der Schweiz gängige Praxis: Wer dort regelmäßig die Telemedizin nutze, spare 20 Prozent Beiträge. Andreas Kenner bestätigt das: Er hat in Basel gesehen, wie gut es funktioniert. Man müsse ausschließen, dass Menschen mit 38,2 Grad Temperatur in die Notaufnahme kommen. Beruhigen kann Doris Reinhardt in Bezug auf den Hausarztservice. „Sie werden auch in Schopfloch versorgt“, sagt sie auf einen Einwurf von Andreas Kenner. Das werde mit einem Fahrdienst für Ärzte abgedeckt. 

 

Frage nach Einsparung unbeantwortet

Holzmadens Bürgermeister Florian Schepp sitzt auch im Publikum. Er fragt sich, wie viele Stellen tatsächlich in Nürtingen aufgebaut werden und was eingespart wird. „Gibt es da Untersuchungen, ein schriftliches Konzept?“ Schepp hatte mit Amtskollegen in einem Schreiben an Gesundheitsminister Lucha gegen die Schließungen protestiert. Für ihn geht die Rechnung nicht auf. Eine eindeutige Antwort bekommt er nicht. Doris Reinhardt geht es mehr um einen Mentalitätswechsel. „Sie können nicht erwarten, an jeder Ecke eine Notfallpraxis zu haben“, sagt sie zu einer Zuhörerin auf deren Einwand. Das bisherige System in Deutschland sei immer bereit: „Wenn man ins Krankenhaus kommt und es offen ist, muss man behandelt werden, egal womit. Das muss sich ändern.“

Für die betroffenen Standorte gibt es noch eine Mini-Hoffnung. Die Klage der 13 Städte gegen die KVBW – über die soll per Eilantrag bis Ende März entschieden werden.