Kirchheim
Mental Load: Warum Frauen so erschöpft sind

Gender Sind Frauen selbst schuld, wenn sie sich andauernd ausgelaugt fühlen? Nein, sagt die Buchautorin Dr. Franziska Schutzbach. Erschöpfung ist kein individuelles Versagen, sondern die Folge eines Systemfehlers. Von Antje Dörr

Erschöpfung: Dieses Wort beschreibt das Lebensgefühl vieler Frauen, besonders in Zeiten der Pandemie, aber auch schon vorher. Frauen können heute alles sein, alles erreichen. Das führt jedoch dazu, dass der Perfektionsdruck steigt. Frauen sollen Karriere machen, aber ihre mütterlichen und ehelichen Pflichten nicht vernachlässigen. Sie sollen ein warmes Umfeld bieten, sich um Freundschaften und Familie kümmern, gebildet, hip, schlank, attraktiv und sexuell aktiv sein. Und wenn Frauen diese Vielzahl an Anforderungen als erschöpfend empfinden, müssen sie sich vorwerfen lassen, schlecht organisiert zu sein oder zu wenig Yoga gemacht zu haben.

 

„Die Emanzipation hat sich ein Stück weit in eine Fratze verwandelt.
Franziska Schutzbach darüber, wie Frauen heute alles können, aber auch alles müssen

 

„Falsch“, sagt Franziska Schutzbach, Autorin des Buchs „Die Erschöpfung der Frauen“, die im Rahmen einer Online-Lesung auf Einladung der GEW, der Frauenliste Kirchheim und der Buchhandlung Schöllkopf zu Gast war. Anders, als der Titel es vermuten lässt, handelt es sich bei ihrem Buch nicht um einen weiteren Ratgeber, der Frauen Work-Life-Balance-Tipps gibt. Im Gegenteil: Die Wissenschaftlerin Franziska Schutzbach stellt in ihrem Buch die These auf, dass Erschöpfung kein individuelles Schicksal ist, nicht das Ergebnis von persönlichem Versagen, sondern „ein nachvollziehbarer Effekt der vorherrschenden Verhältnisse“, und zwar auf politischer, kultureller und ökonomischer Ebene.

„Mental Load“ ist das Stichwort, das die emotionale und mentale Verantwortungslast beschreibt, die Mütter in der Regel zu tragen haben. „Sie sind die Projektleiterinnen, die den Überblick über Arzttermine, Kindergeburtstage und passende Winterkleider haben, die häufiger auf ihr Telefon schauen, um zu kontrollieren, ob der Babysitter oder die Kita angerufen hat“. Frauen seien also neben der Erwerbsarbeit innerlich und äußerlich konstant mit Familienarbeit befasst. „Das ist auch der Grund, warum Frauen im Corona Home-Office weniger geschafft haben“, sagt Franziska Schutzbach. Der heimische Arbeitsplatz berge für viele Frauen die Gefahr, sich noch weniger auf die Arbeit konzentrieren zu können, weil das Haus oder die Wohnung eine Art Dauerbaustelle sei, die permanent ‘Putz mich!’ und ‘Räum mich auf!’ rufe. Schutzbach kritisiert, dass die Verfügbarkeit der weiblichen Sorgearbeit und die Erwerbsorientierung der Männer bis heute nicht grundlegend infrage gestellt werden.

Franziska Schutzbach ist es wichtig, zu betonen, dass es heute viele Männer gibt, die Verantwortung für Familie und Haushalt übernehmen. Und doch fühlten sich die meisten mehr als „Unterstützer, Helfer oder Assistenten der Frauen und nicht in der Hauptverantwortung“. 

Auch im Job übernehmen Frauen laut Schutzbach mehr Verantwortung für das Gelingen von Beziehungen, für das Zwischenmenschliche, als Männer – eine Arbeit, die zwar kräfteraubend ist, aber weitestgehend unsichtbar. Sie gestalteten den Arbeitsplatz, sorgten dafür, dass sich andere wohl und wertgeschätzt fühlen. Sie reagierten auf Bedürfnisse, hörten zu. Oft realisierten Frauen noch nicht einmal, wie viel sie leisteten, weil es als etwas Angeborenes erscheine. Diese Kümmer-Arbeit sei an sich nichts Schlechtes. Sie sei sinnstiftend und verbindend. „Die Schwierigkeit ist, dass die Kümmer-Arbeit nur von manchen erwartet und erledigt wird, und dass sie oft abgewertet wird“, sagt Schutzbach. In der Regel werde die umsorgende Emotionsarbeit als weibliche Tugend naturalisiert und im gleichen Atemzug entwertet („Weiberkram“).

Wie können Frauen der Erschöpfungsfalle entrinnen? Schutzbach plädiert dafür, die Erwerbsarbeit zu reduzieren und neue Zeitmodelle zu lancieren. Ein Modell ist die „Vier-in-eine-Perspektive“ der in Esslingen lebenden feministischen Soziologin Frigga Haug. Sie schlägt vor, Sorgearbeit, politische und kulturelle Arbeit zulasten der Erwerbsarbeit aufzuwerten. Konkret solle jeder Mensch etwa je vier Stunden am Tag für Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, kulturelle Selbstverwirklichung und politisches Engagement investieren können. Damit alle von der 20-Stunden-Woche leben könnten, sollten Gewinne gerechter verteilt werden.

Info

Die Lesung mit Franziska Schutzbach fand im Rahmen der Frauenkulturtage 2022 statt. Finanziert wurde sie von der „Partnerschaft für Demokratie Kirchheim“ aus Mitteln des Bundesprogramms „Demokratie leben“.