Am Pfingstsamstag will David Strifler um 10.02 Uhr mit sieben Freunden eigentlich in den Zug von Stuttgart nach Heidelberg einsteigen. Das Problem ist nur: Sie sind nicht die einzigen. „Es waren zu viele, die Bahnhof-Security war überfordert und versuchte, die Leute vom Einsteigen abzuhalten“, erzählt der Student aus Göppingen. Die Freunde, alle um die 20, warten lieber auf den nächsten Zug. Der kommt 45 Minuten später, ist aber auch völlig überfüllt. Außerdem müssen sie zweimal Umsteigen, was die Fahrzeit um zwei Stunden erhöht. Den Zielort Heidelberg erreichen sie somit 2:45 Stunden später als geplant. Kommentar derjenigen Freunde, die ohnehin Bahnmuffel sind: „Wären wir mal mit dem Auto gefahren.“ Dabei soll das 9-Euro-Ticket, dessen Start die Bundesregierung für Anfang Juni beschlossen hat, gerade das vermeiden. Denn durch die gestiegenen Benzinpreise ist die Fortbewegung mit dem Auto deutlich teurer geworden. „Aus Umwelt- und Klimasicht kommt es nicht auf die Anzahl der Fahrgäste alleine an. Es muss darum gehen, dass damit Autofahrten reduziert werden“, erklärt Bahnexperte und Grünen-Bundestagsabgeordneter Matthias Gastel.
„Das Ticket ist aber natürlich auch ein spannendes verkehrspolitisches Instrument. Wir schauen genau hin, wie viele und welche Menschen es zu welchem Zweck nutzen. Wir wollen wissen, wer sich von einem so preiswerten und einfach nutzbaren Angebot gewinnen lässt, und so Rückschlüsse auf zukünftige bessere Tarifangebote ziehen“, fügt er hinzu. Auch die Bahn sieht das Angebot naturgemäß positiv: „Ziel ist es, mit dem Ticket insbesondere Neukundinnen und Neukunden anzusprechen und langfristig zu binden. Sie sollen durch die Aktion die Möglichkeiten und Vorteile des Nahverkehrs kennenlernen“, erklärt die Deutsche Bahn.
Eine Möglichkeit, auf die man bei der DB wahrscheinlich nicht gekommen wäre, will Teckboten-Praktikantin Celia Veygel ausprobieren: „Wir würfeln zunächst das Gleis, von dem wir losfahren, und dann die Zahl der Stationen, bis man wieder aussteigt“, erklärt sie. So lerne man Orte kennen, an denen man nie zuvor war.
Was immer die Motive der Nutzer sind: Das Interesse am 9-Euro-Ticket ist nach Angaben des Verkehrsverbands VVS groß. Bis Anfang Juni waren schon mehr als 300 000 9-Euro-Tickets verkauft. Mit den 350 000 bisherigen Abonnenten, deren Tickets seit Juni ebenfalls als 9-Euro-Ticket gelten, sind damit mehr als 650 000 Menschen im VVS mit diesem Angebot unterwegs.
Niveau der Vor-Corona-Zeit
Verkehrsexperte Gastel relativiert allerdings: „Auch wenn sehr vereinzelt überfüllte Züge festzustellen sind, haben wir mit dem supergünstigen und in ganz Deutschland im Nah- und Regionalverkehr gültigen Ticket bislang gerade einmal wieder die Fahrgastzahlen erreichen können, die wir vor Corona schon hatten.“ Die Grenzen der dreimonatigen 9-Euro-Aktion sieht auch Bahn-Enthusiast Gastel: „Einige Erfahrungen deuten bislang darauf hin, dass es starke Mitnahmeeffekte gibt und sich mit niedrigem Preis leider nur wenige Menschen dafür gewinnen lassen, vom Auto vollständig oder zumindest teilweise auf Bus und Bahn umzusteigen.“
Profitiert haben allerdings die regionalen Urlaubsregionen. Auf der Schwäbischen Alb freut man sich über gestiegene Gästezahlen, und dort führt man das zumindest teilweise auf das günstige Bahnticket zurück. „Wir können festhalten, dass bis zu zehn Prozent der Gäste in den Tourist-Infos mit dem 9-Euro-Ticket unterwegs sind. Es gab auch einige positive Gästerückmeldungen, die zum Beispiel spontane Ausflüge nach Bad Urach oder Rottweil unternommen haben, die sonst nicht stattgefunden hätten“, sagt Miriam Gairing vom Tourismusverband. Die Gäste würden sich wünschen, dass Sehenswürdigkeiten oder Wanderwege künftig besser mit den „Öffis“ erreichbar sind. „Ein klassisches Extrem-Beispiel unserer Region: Von Bad Urach zum Schloss Lichtenstein benötigt ein Gast mit dem ÖPNV derzeit rund zwei Stunden. Luftlinie ist das Schloss 10 Kilometer entfernt.“
Nach den ersten Erfahrungen stellt sich nun die Frage, wie es am 1. September weitergeht. Beim VVS heißt es dazu: „Wir hoffen, dass das überaus preisgünstige Ticket kein dreimonatiges Strohfeuer entfacht. Wir brauchen auch nach dem August das politische Bekenntnis zum Ausbau des Verkehrsangebots und zur Unterstützung bei den steigenden Betriebskosten.“ Die steigenden Dieselpreise treffen auch den öffentlichen Nahverkehr.
Student David Strifler hat sich jedenfalls von der Pfingst-Odyssee mit der Deutschen Bahn nicht entmutigen lassen. Zwei Tage später fuhr er nach München, wieder mit dem 9-Euro-Ticket. „Da hat alles gut geklappt, ich war wieder versöhnt.“ Was die Aktion gebracht habe: „Es hat dazu geführt, dass Gruppen mit der Bahn fahren, die es vorher nie gemacht hätten“, sagt der Student des Studiengangs „Nachhaltigkeit und Wandel“ über den Praxistest. Was das Pfingstwochenende betrifft, müsste man auch ehrlich sein: „Mit dem Auto hätte man auch im Stau gestanden.“
Kommentar
Das Gegenteil von nachhaltig
Wenn ich etwas billiger mache, kaufen es potenziell mehr Menschen. Diese Erstsemester-Binse aus dem BWL-Studium hat sich tatsächlich bestätigt: Dank des 9-Euro-Tickets haben nach Angaben der Deutschen Bahn 25 Prozent mehr Menschen die Züge genutzt.
Das Ticket soll ein Ausgleich sein für die stark gestiegenen Energiepreise, insbesondere Benzin und Diesel. Fraglich ist nur, ob die betroffenen Autofahrerinnen und Autofahrer tatsächlich auf den Zug gewechselt sind. Leer sind die Straßen jedenfalls nicht. Am Pfingstwochenende hatte es auf deutschen Autobahnen Staus wie eh und je gegeben. Auf den Bahnsteigen verstärkte sich der Eindruck, dass viele, vor allem jüngere Menschen, überhaupt erst mal auf die Idee gekommen sind, mal irgendwo für wenig Geld hinzufahren.
Wenn der FDP-Bundesverkehrsminister Volker Wissing das Ticket als Chance sieht, „den öffentlichen Personennahverkehr sichtbar zu machen“, hat er natürlich recht. Nur möglicherweise nicht so, wie er sich das wünscht. Polizisten, die Menschen aus überfüllten Zügen holen, und volle Bahnhöfe sorgen eher für „Einmal-und-nie-wieder-Erlebnisse“. Das ist das Gegenteil von nachhaltig.
Was aber viel schlimmer ist: Treue Zugkunden werden auf Regionalstrecken mit Verspätungen und vollen Abteilen durch Billigheimer-Horden noch bestraft. Wie sagte es der Comedian und passionierte Bahnfahrer Florian Schröder nach einer verpassten Show wegen Zugverspätung: „Mich hat das 9-Euro-Ticket überzeugt, nun endlich den Führerschein zu machen.“
Welche Erkenntnisse gibt es?
Bevor man jetzt aber alles schlechtredet – da spricht der Autor auch zu sich selbst –, sollte man schauen, ob es vielleicht auch einige Erkenntnisse gibt. Vielleicht diese: Man könnte die Tickets regional beschränken. Dann kommen Heiratswillige am Bodensee zumindest nicht wegen der billigen Tickets auf die Idee, in Düsseldorf Junggesellenabschied zu feiern. Ist doch auch nicht schlimm, wenn nur die Hamburger Punker medienwirksam auf Sylt einfallen, die Kollegen aus Mannheim aber davon Abstand nehmen, weil die Anfahrt dann doch etwas zu teuer ist.
Noch einen Tipp an die Bahn: Bevor Milliarden für neue Strecken ausgegeben werden, sollte der Bestand erst mal in Schuss gehalten und gleichzeitig in neue Züge investiert werden. Wie man sieht, gibt es ein Potenzial von Neukunden, die langfristig aber nur gehalten werden, wenn die Qualität des Angebots stimmt. Dann darf der Preis auch ruhig über neun Euro liegen.