Kirchheim. Jahrzehntelang sprach der 85-jährige Kirchheimer Walter Gerber nicht über den Leidensweg seines Vaters. Erst als er mit Aktiven aus Nürtingen zusammentraf, die dort 2013 die „Gedenkinitiative an die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen und Umgebung“ gegründet hatten, änderte sich das. In der Auferstehungskirche erinnerte er zum ersten Mal öffentlich in Kirchheim an seinen Vater, Karl Gerber, KZ-Häftling in Ravensbrück.
Der wache und interessierte Erstklässler Walter reist als Siebenjähriger 1944 mit seiner mutigen Mutter nach Berlin. Er erlebt die ständigen Sirenenalarme und wird von der Mutter in der Bahnhofsmission untergebracht. Sie besorgt die Papiere für die Besuchserlaubnis im KZ Ravensbrück. Es gelingt ihr schließlich, ins Lager zu gelangen und ihrem todkranken Mann die lebensrettenden Medikamente zukommen zu lassen. Ihr Sohn ist dabei. Karl Gerber ist seit Ende 1939 als Mitglied der KPD inhaftiert – zuerst im „Hotel Silber“ in Stuttgart, dann in den Konzentrationslagern Welzheim und Dachau und schließlich als einer der ersten männlichen Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück. Er überlebt den Krieg. Nach dem Krieg schreibt Karl Gerber ein „Lagerbuch“ über seine Erlebnisse als Häftling. Leider findet er keinen Verleger. Die Deutschen wollen nicht mit den Untaten der Vergangenheit konfrontiert werden. Die traumatische Haftzeit und das entwürdigende Ringen um Anerkennung als Geschädigter um Wiedergutmachung belasten ihn und die Familie schwer. Er wird vorzeitig invalidisiert und entwickelt seine künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Zur Verarbeitung des erlebten Grauens schreibt er Gedichte und hält die Erlebnisse der Vergangenheit zeichnerisch fest. Erst elf Jahre nach seinem Tod entschuldigt sich der damalige Nürtinger OB Bachhofer 1994 anlässlich einer Ausstellung der Bilder Karl Gerbers posthum für das Verhalten der Stadt Nürtingen.
Die Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen hat auch Karl Gerbers Leben und Leiden dokumentiert. Für den Kirchheimer Walter Gerber bedeutet Erinnerungsarbeit: mit wachem Blick die Gegenwart und die Zukunft im Auge haben, über die Entstehung, die Auswirkungen und die Fortdauer faschistischer und rechtsextremistischer gesellschaftlich-politischer Strukturen aufklären und politische Konsequenzen daraus ziehen.
Diesem Auftrag fühlt sich auch die Stadt Kirchheim verpflichtet. In ihrem Namen stellte Bürgermeisterin Christine Kullen vor dem Hintergrund ihres Zusammentreffens mit Überlebenden des KZ Vaihingen/Enz die „Kirchheimer Stolpersteine“ als Teil der Erinnerungsarbeit vor. pm