Kirchheim
Mitten aus dem Leben gerissen

Trauer Einen Tag vor ihrem elften Geburtstag starb die Tochter des Musikers Arne Kopfermann bei einem Unfall. Aus tiefem Leid wurde eine Konzertlesung. Von Peter Dietrich

Schier unerträglich sind die oberflächlichen Trostfloskeln, die der Musiker Arne Kopfermann als warnendes Beispiel zitiert: „Die Zeit heilt alle Wunden“, „Wenigstens ging es schnell“, „Du musst loslassen“, „Es war besser so“. Die Leute meinten das ja gar nicht böse, betont Arne Kopfermann, die Worte seien Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. Doch wer kann anderen Menschen Trost spenden, im Leid an ihrer Seite stehen? Am ehesten, wer selbst durch die Tiefe gegangen ist, so wie Arne Kopfermann, der immer noch hindurchgeht. Auf Einladung der Evangelischen Allianz Kirchheim nahm er die Zuhörer im Steingau-Zentrum in einer bewegenden Konzertlesung mit auf seinen Weg.

Es ist der 13. September 2014, ein Tag vor dem elften Geburtstag seiner Tochter Sara. Arne Kopfermann ist mit der Familie im Auto auf dem Weg zum Hansapark. Die Sonne steht tief, er sieht das Taxi nicht kommen. Der Aufprall ist hart. „Ich glaube, Sara ist tot“, sagt die Mutter entsetzt. Rettungshubschrauber, Intensivstation und Operation in Lübeck, alles vergeblich. Sara gibt nie mehr ein Lebenszeichen von sich. Ob dies Gottes Schutz gewesen sei, dass seine Tochter nicht leiden musste, so fragt Arne Kopfermann viel später. Vielleicht seien die zehn bangen Tage ja für ihn selbst, für die Familie gewesen, als Zeit des Abschieds. Das ist keine leicht gefundene Aussage. Zwei Jahre lang sei die Beziehung zu Gott „kompliziert“ gewesen, so beschreibt es der Musiker.

Im Jahr vor dem Unfall hatte Sara zu ihrer Mutter einen Satz gesagt, an dem Familie Kopfermann seither viel gekaut hat: „Manchmal habe ich das komische Gefühl, dass ich nicht hierher gehöre, hier auf diese Erde.“ Arne Kopfermann erzählt noch anderes, das sich dem begrenzten menschlichen Verstand nicht erschließt. Dazu gehört der Freund, der keine Ahnung von dem Unfall hat, aber nachts voller Unruhe aufsteht, weil er weiß, er muss für Familie Kopfermann beten. Ein Hauptanliegen des Freundes ist, dass die Familie nicht an diesem Leid zerbricht. Die Statistik zeigt, wie berechtigt das Anliegen ist. 80 Prozent der Familien, die ein Kind verloren haben, gehen kaputt. In den USA sind es sogar 95 Prozent. Das liege auch daran, dass jeder Mensch die Trauer ganz individuell verarbeite. Der eine schweige, der andere - wie er als Musiker - verarbeite die Trauer nach außen. Oft geschehe die Trauer bei beiden Elternteilen antizyklisch, das mache es noch schwerer. Zwei Jahre lang nahm Arne Kopfermann eine professionelle Therapie in Anspruch. Der Therapeut sprach mit ihm über den Unterschied zwischen juristischer und moralischer Schuld, als der knallharte Brief der Staatsanwaltschaft kam. Auch für Saras 14-jährigen Bruder Tim ist ihr Tod ein harter Schlag.

Die Sprache behilft sich mit der Hilfskonstruktion „verwaiste Eltern“. Eine andere Bezeichnung für jemanden, der ein Kind verloren hat, gibt es nicht. Arne Kopfermann beschreibt das Leid nicht als Wunde, die irgendwann verheilt, sondern als bleibenden Verlust: „Wir sind amputiert und werden immer mit dieser Lücke durchs Leben gehen. Alles andere wäre unrealistisch. Nie werde ich mit meiner Tochter auf dem Abi-Ball tanzen.“ Krisen kämen ohne Vorwarnung, dennoch sollte man sie nicht in ständiger Angst erwarten: „Wer ständig mit dem Schlimmsten rechnet, wird seines Lebens nicht mehr froh.“ Die Lücke der Familie Kopfermann bleibt bei der Konzertlesung kein anonymer Name: Durch Fotos und lebendige Schilderungen kann man sich die kleine „Drama-Queen“, bei der es fast unmöglich war, sie nicht zu mögen, lebhaft vorstellen. Darf man Gott anschreien, anklagen, wenn so ein Leben ganz plötzlich endet? Von 150 Psalmen, also Gebeten der Bibel, seien 65 Klagepsalmen, sagt der Musiker. „Wer nie gelernt hat, gegenüber Gott seinen Schmerz zu artikulieren, wird in schweren Zeiten sprachlos sein.“

Ein Mensch, der Trauer und den christlichen Glauben nicht nebeneinander stehen lassen könne, werde weltfremd, so Arne Kopfermann. Das Leben und der Glaube seien nicht einfach, doch die Schönheit wachse aus der Asche. Wer in seinem Leben dem Leid begegnet sei, der habe die Wahl: Entweder er werde zum Zyniker - oder ihm gelinge der Durchbruch zu einer neuen Naivität.