Kirchheim
Morgen, Kinder, wird’s nichts geben

Armut Scheidung, Unfall, vier Operationen: Seit zwei Jahren bleiben der alleinerziehenden Mutter Anita S. und ihren Kindern nur 100 bis 200 Euro zum Leben im Monat. Von Claudia Bitzer

Vor zwei Jahren ist das Leben von Anita S. aus den Fugen geraten. Von heute auf morgen, erzählt die fünffache Mutter aus einer Kommune im Kreis Esslingen. Da war die Scheidung, bei der sie falsch beraten wurde. Und da war der Unfall, dem vier Operationen folgten und der sie bis jetzt aus ihrem Arbeitsleben als Ausbilderin in einer Hilfsorganisation geworfen hat.

Zwei Kinder im Alter von elf und 14 Jahren leben bei ihr - von 100 bis 200 Euro im Monat, die dem Trio nach Abzug aller Fixkosten vom Krankengeld, Kindergeld und dem minimalen Unterhalt übrig bleiben. Weihnachtsgeschenke fallen daher dieses Jahr aus, in den vergangenen vier Monaten hatte sie drei Wasserschäden. „Da wird man selbst zum Handwerker“, sagt Anita S.

Im reichen Kreis Esslingen gibt es zahlreiche Menschen in solchen und ähnlichen Situationen, weiß Eberhard Haußmann, Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbands (KDV). Sein Verband hat 2018 bereits 280 000 Euro als Notsorgemaßnahmen an die Betroffenen weitergegeben. „Die Not ist vor Weihnachten besonders groß“, so Anne Burkhardt, Sozial- und Lebensberaterin im KDV. „Wenn früher die Waschmaschine kaputt gegangen ist, bekamen die Betroffenen wenigstens einen Teil erstattet“, erinnert sich Haußmann. Heute reiche das Geld bei Hartz-IV-Empfängern zwar für das Allernötigste. „Aber jede Art von Sonderausgabe ist ein Problem“, ergänzt Burkhardt.

3873 sogenannte Bedarfsgemeinschaften, in denen Partner mit Kindern leben, erhalten derzeit im Kreis Esslingen Arbeitslosengeld II, 2172 von ihnen sind von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Dazu kommen 2478 Bedarfsgemeinschaften, in denen Alleinerziehende sich und ihre Kinder mit Hartz IV über Wasser halten, davon beziehen 1596 schon seit längerem die Leistungen. Wer jeden Tag mit 4,30 Euro drei Mahlzeiten bestreiten muss, nie ins Kino gehen kann, bangen muss, dass der Herd durchhält, hat Dauerstress. „Man sieht nie Licht am Ende des Tunnels“, weiß Reinhard Eberst, Leiter des Fachbereichs Sozial- und Lebensberatung im KDV. Jobcenter und Landratsamt täten alles, was sie könnten. „Aber sie haben halt nur eine beschränkte Kapazität.“ Zudem mahlen die Mühlen der Bürokratie langsam. Beantrage man im Februar Wohngeld, komme es „nicht selten“ vor, dass der Antrag im November noch nicht beschieden worden sei. Überhaupt: Die Wohnungssuche auf dem ohnehin überhitzten Wohnungsmarkt sei ein Riesenproblem. „Oft ist die Warteliste der Städte für die Betroffenen die einzige Chance, an eine adäquate Wohnung zu kommen“, weiß Eberst.

Anita S. hat eine bemerkenswerte Willenskraft. Wenn ihre Kinder und sie einen besonderen Wunsch haben, „dann sparen wir alle, dass wir das irgendwie hinbekommen.“ Für die Konfirmation hatte sie schon lange zuvor Materialien gesammelt, um die Deko selbst zu machen. Gekocht haben die Freunde, die ihr noch verblieben sind. Not macht einsam. Dass die Kinder in vielen Dingen mit den Klassenkameraden nicht mithalten können, belastet sie ebenso wie die Sorge, dass Nachbarn oder Mitschüler die Not mitbekommen könnten. Handy oder Laptop sind Luxusgegenstände. „Auf diese Art und Weise werden die betroffenen Kinder und Jugendlichen von der gesamten Medienentwicklung abgehängt“, bilanziert Anne Burkhardt. „Wenn Kinder aus anderen Familien eine Vier in Mathematik hätten, würden ihre Eltern sie zur Nachhilfe schicken. Nachhilfe für Hartz-IV-Kinder wird aber nur dann bezahlt, wenn sie versetzungsgefährdet sind“, führt Eberst ein weiteres Beispiel für die fehlende Bildungsgerechtigkeit an. Zudem wissen viele Betroffene gar nicht, welche Leistungen sie in Anspruch nehmen könnten oder wie sie die Formulare ausfüllen müssen. Dazu kommt die Scham, vor Fremden alles offenlegen und sich für alles rechtfertigen zu müssen. Burkhardt: „Viele machen das dann einfach gar nicht.“ Reinhard Eberst hofft darauf, dass die Jobcenter ihre Beratung erweitern können, Eberhard Haußmann wünscht sich unabhängige Informationsstellen. Zudem plädiert er für ein Sozialticket und für die Abschaffung des komplizierten Bildungs- und Teilhabepakets. Stattdessen wäre den betroffenen Eltern und ihren Kindern mehr geholfen, wenn sie das Kindergeld künftig ohne Anrechnung auf die Regelsätze bekämen.

Anita S. hat eine Perspektive: Sie will so schnell wie möglich wieder in ihren Beruf. Eberst weiß: Das wollen alle Alleinerziehenden. Da tut sich dann das nächste Problem auf: die Kinderbetreuung.