Sexualisierte Gewalt ist ein Thema, um das die allermeisten Menschen einen großen Bogen machen. Angelika Schönwald-Hutt gehört nicht zu diesen Menschen. Die letzten 22 Jahre hat die Geschäftsführerin der Fachberatungsstelle „Kompass“ mit Betroffenen sexualisierter Gewalt gearbeitet, aber auch mit jenen, die man früher „Täter“ genannt hat: Den Beschuldigten. Sie hat Lehrerinnen und Erzieher beraten, wenn Kinder auffällig wurden, Grenzen überschritten oder der Verdacht aufkam, dass das Kind sexuell missbraucht werden könnte. Jetzt hat Angelika Schönwald-Hutt die Geschäftsführung an Katja Englert übergeben.
Eins ist klar: Die Arbeit wird der Nachfolgerin und ihrem aktuell rein weiblichen Team nicht ausgehen – im Gegenteil. Was im Jahr 2000, als Schönwald-Hutt zu Kompass wechselte, noch keine Rolle spielte, mittlerweile jedoch stark zugenommen hat, sind Fälle sexualisierter Gewalt, die sich in den sozialen Medien abspielen. Ein Beispiel: Ein 17-Jähriger verschickt ein Foto, auf dem eine 13-Jährige nackt zu sehen ist. Damit richtet er nicht nur bei dem betroffenen Mädchen erheblichen Schaden an, sondern er macht sich auch der Verbreitung und des Besitzes kinderpornographischen Materials strafbar. „Das Wissen, dass das Weiterverschicken strafbar ist, fehlt teilweise“, sagt Angelika Schönwald-Hutt. In der Verantwortung aufzuklären, sieht sie nicht nur Polizei und Schule, sondern auch das Elternhaus.
Allerdings sei es schwierig, die Balance zu finden zwischen Interesse und Kontrolle. Eltern sollten nicht alle Chats kontrollieren und damit riskieren, dass das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und dem Kind gestört wird, sagt Schönwald-Hutt. „Sonst besteht die Gefahr, dass Jugendliche sich irgendwann gar nicht mehr anvertrauen, aus Sorge, dass der Medienkonsum eingeschränkt wird.“
Eine weitere Beobachtung, die Katja Englert und Angelika Schönwald-Hutt machen: Das Wissen über Sexualität ist zwar frei verfügbar, aber Aufklärung findet im Elternhaus oft unzureichend statt. Im Vergleich zu vorherigen Generationen habe sich da gar nicht so viel verbessert. Dabei sei Aufklärung auch Missbrauchsprävention. „Kinder können viel leichter über etwas sprechen, wenn sie eine Sprache und angemessene Begriffe für Körperteile, Handlungen und Gefühle kennen. Und wenn sie das Gefühl haben, der Erwachsene kann das aushalten“, sagt sie.
Ebenfalls stark zugenommen haben in den letzten Jahren Vorfälle, in denen Kinder Grenzen anderer Kinder überschreiten. Auch die Art des sexuell grenzverletzenden Verhaltens habe sich verändert, sagt Angelika Schönwald-Hutt. „Während das früher Berührungen waren, haben wir es seit zirka fünf Jahren mit Fällen zu tun, bei denen beispielsweise Kinder aufgefordert werden, Gegenstände in Körperöffnungen einzuführen“, sagt die Kinder- und Jugendlichentherapeutin. Für ein solches Verhalten gebe es verschiedene Erklärungen. „Manche erleben selbst sexualisierte Gewalt und reinszenieren sie, oder sie leiden unter anderen Belastungen“, sagt Schönwald-Hutt. Bei sexuellen Grenzverletzungen von Kindern müssten einerseits die Ursachen des Verhaltens geklärt und behoben werden. „Auf der anderen Seite müssen betroffene Kinder wirksam geschützt werden und gegebenenfalls Unterstützung bei der Verarbeitung des Geschehenen erhalten.“
Schutzkonzepte in Kitas
So besorgniserregend diese Entwicklungen sind: Es gibt auch positive Nachrichten. Zum Beispiel, dass immer mehr Einrichtungen über Schutzkonzepte verfügen, um Menschen vor sexualisierter Gewalt zu schützen. In Kitas sind solche Konzepte gesetzlich verpflichtend, viele Vereine verpflichten sich selbst dazu. „Früher war es gang und gäbe, dass der Trainer mit unter die Dusche gestanden ist. Das ist heute ein No Go“, sagt Angelika Schönwald-Hutt. Schutzkonzepte machten es Menschen schwerer, die übergriffig werden wollen. „Das ist ein heikles Thema, weil es in Vereinen so viele wundervolle Männer und Frauen gibt, die eine tolle Arbeit machen und den Kindern und Jugendlichen eine zweite Heimat bieten“, sagt die Ex-Geschäftsführerin. „Aber man muss auch ganz offen sagen: Jemand, der übergriffig werden möchte, geht eben dort hin, wo Kinder und Jugendliche sind.“
Angelika Schönwald-Hutt lässt ein gut aufgestelltes Team zurück. „Wir hatten es all die Jahre gut miteinander“, sagt sie. Ihr Respekt gilt all den Menschen, die sich bei Kompass Unterstützung geholt haben und holen. „Es ist nicht einfach, sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen“. Teilweise habe sie zehn Jahre später wieder von Klienten gehört, die mittlerweile Familie hatten, und war froh zu hören, „dass es gut werden kann“. „Wir können das, was geschehen ist, nicht ungeschehen machen. Man muss es in die Lebensgeschichte integrieren, aber nicht steckenbleiben. Wenn uns das gelungen ist, ist es viel“, sagt Angelika Schönwald-Hutt.
Nicht alle Beschuldigten sind pädophil
Pädophil ist nur ein Teil der Beschuldigten, die von Kompass-Mitarbeiterinnen beraten werden. „Viele Beschuldigte kompensieren ihr geringes Selbstwertgefühl und eigene Ohnmachtserfahrungen, indem sie Macht über andere ausüben“, sagt Angelika Schönwald-Hutt.
Tabubrüche hat Angelika Schönwald-Hutt in den letzten 22 Jahren einige erlebt. „Am Anfang waren es die Frauen und Mädchen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben“, erzählt sie. „Dann kam heraus: Es sind auch Jungs, die sich aber schwerer damit getan haben, sich anzuvertrauen, weil es nicht der männlichen Identität entspricht“. Dass nicht nur Männer Beschuldigte sind, sondern in zehn Prozent der Fälle auch Frauen missbrauchen, oft im Verbund mit männlichen Tätern, sei ebenfalls lange totgeschwiegen worden, „weil das nicht dem Ideal der Mutter entspricht.“ Und schließlich folgte der Tabubruch, dass es Missbrauch im kirchlichen und Jugendhilfebereich gab.
Missbrauch findet zu 90 Prozent im häuslichen Umfeld statt. „Die Zahl der ‚Täter außen’ ist verschwindend gering“, so Katja Englert.
Die Nachfrage nach Beratung ist bei „Kompass“ deutlich größer als das Angebot. Die Therapiestunden pro Klient mussten begrenzt werden, um lange Wartelisten wie bei den niedergelassenen Psychotherapeuten zu vermeiden. „Wir müssen immer Kapazitäten für kurzfristig erforderliche Fachberatungen und Risikoeinschätzungen bei möglichen Kindeswohlgefährdungen vorhalten können“, sagt Schönwald-Hutt.
Zielgruppen , für die „Kompass“ Angebote vorhält, sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind; Kinder mit grenzverletzendem Verhalten; tatgeneigte Jugendliche und Erwachsene; beschuldigte Jugendliche und Erwachsene; Angehörige, Freunde und Freundinnen; das soziale Umfeld; Fachkräfte und Institutionen. adö